„25 Geschichten über das Reisen“ – das hat Satzhüterin Pia direkt angesprochen. Reisen für den Kopf scheint ihr in Zeiten der Pandemie eine verlockende Sache zu sein. Warum konnte der Sammelband mit den Kurzgeschichten sie dennoch nicht vollends überzeugen?
Die Pandemie hält uns weiterhin gefangen, dominiert unser aller Leben auf die eine oder andere Art und Weise. „Ansichtskarten“ ist eine Sammlung von „25 Geschichten über das Reisen“, verfasst von zeitgenössischen Schreibenden wie Terézia Mora, Hans Christoph Buch und Kerstin Specht. Eine willkommene Möglichkeit, gedanklich zu verreisen, so erhoffte ich es mir. Nun, ich nehme ein wenig vorweg: Das funktioniert nur bedingt, wenn das Thema, dem man entfliehen will, immer wieder hervorblitzt oder die Geschichten gar komplett in dieser Gegenwart spielen.
Reise-Mosaik
„Ansichtskarten“ versammelt eine bunte Mischung an Kurzgeschichten, die sich dem Thema Reisen auf verschiedene und teils kreative Art nähern. Klassische Reisen, kurze Reisen – mehr Spaziergänge eigentlich –, Reisen durch (fremde) Wohnungen, Zeiten oder die eigenen Gedanken. Ein Mosaik, oder vielleicht ein Flickenteppich, denn die (subjektive) Qualität ist dabei sehr unterschiedlich.
Während Terézia Mora in ihrer Geschichte „Wie du gehen musst“ die Leserinnen und Leser detailliert beschreibend über die Grenze nach Ungarn, nach Hause, führt, lässt Kerstin Specht ihre Protagonistin in die Vergangenheit reisen. Als diese noch reisen konnte. Ihr Text „Pipo tanzt“ ist lyrischer als Moras, ruhig vorgelesen bekommt er durch den ungewöhnlichen Satz eine tanzende Melodie – wie passend. Abgedrehter und morbider geht es bei Judith Kuckhart zu (wobei ich persönlich die fehlenden Anführungszeichen furchtbar finde). Hängen bleibt bei mir in ihrer Kurzgeschichte „Dann fahr doch mal weg, Maria Malkovich“ besonders ein Zitat:
„[…] dass Glück nie so glücklich macht wie Unglück unglücklich macht.“
Einige Geschichten ziehen vorbei, andere hallen nach, andere wiederum wünschte ich mir länger. Nachhallend, aber eher negativ konnotiert, ist für mich Lutz Seilers Erzählung „Exit“. Er reist nach Schweden. Eine Geschichte, in die ich mich besser hineinversetzen kann als jede andere, reiste ich doch selbst vergangenen Sommer nach Schweden. Und so bekannt mir viele Situationen vorkommen, so fremd ist mir die Art des Denkens, die Dramatisierung. Natürlich ist es besonders zu diesen Hochzeiten mehr als merkwürdig gewesen, zu verreisen (ich persönlich habe mich mit einigen Truckern angelegt, die allen Ernstes mit in den engen Fahrstuhl auf der Fähre wollten – das noch nicht ganz einjährige Kind zähle ja nicht als dritte Person, puh…), aber dennoch war meine Wahrnehmung oftmals eine andere. Ich hatte keine Angst vor der Klimaanlage und ich habe mich vor allem nie illegal gefühlt. Mit etwas mehr Abstand zu der Pandemie hätte ich die Geschichte vielleicht weniger abstoßend empfunden.
Überall das düstere C
Auch Julia Trompeters Text „Ein schwarzes Meer“ nimmt mich nicht mit. Welche Linie verfolgt er? „Gegen Gedankenstrudel hilft bekanntermaßen Meditation.“ (S. 103) und ich möchte ihr genau das empfehlen. Sie nimmt uns Leserinnen und Leser auf eine Gedankenreise mit, während sie auf dem eigenen Balkon sitzt. Möchte sich eine Reise vorstellen, aber driftet ab, ist immer wieder im Hier und Jetzt, auch bei ihrem Kind.
„Seit es keine anderen Kinder mehr in seinem Leben gibt oder, besser gesagt, seit die Kinder in seinem Leben zur Gefahrenzone erklärt wurden, die unsere sogenannte Kernfamilie zu meiden hat, seit Menschen sich vor anderen Menschen in Acht nehmen müssen, als wären wir alle potenzielle Attentäter, seither hat der Kleine gelernt, sich selbstständig mit der Welt um sich herum zu beschäftigen.“ (S. 96)
Uff. Das muss ich sacken lassen. Vielleicht brauchen nicht nur Leserinnen und Leser Abstand zur Pandemie, um das Gelesene gut finden zu können, sondern auch die Autorinnen und Autoren etwas mehr Zeit dazwischen. Ich verstehe die Situation für Familien als junge Mutter sehr gut, und ich denke, dass sich nicht wenige Menschen durchaus so gefühlt haben, wie die Autorin schreibt. Aber dennoch: Es sind doch nicht die Kinder zur Gefahrenzone erklärt worden! Sondern eine hochgradig gefährliche Lungenkrankheit, die so vielen Menschen das Leben kostet! Für den Frust, der hier mitschwingt, wenn Julia Trompeter „als wären wir alle potenzielle Attentäter“ schreibt, habe ich Mitgefühl, aber für den Vergleich kein Verständnis. Abstand halten und Kontakte einschränken, weil eine ansteckende und gefährliche Krankheit die Welt gefangen hält, damit zu vergleichen, wie man Attentäter meiden sollte… Das funktioniert einfach nicht und zählt für mich schon zu einem gefährlichen Vergleich. Die Vorsichtsmaßnahmen scheinen mir – zumindest gedanklich – kriminalisiert zu werden.
Expectation vs. reality
Ich habe mir Reisen für die Gedanken gewünscht, Ablenkung, etwas anderes als die Pandemie, die wir nun schon in die vierte Welle reiten. Vermutlich sind die Kurzgeschichten zum Teil – zum Großteil? – sehr gelungen, sprachlich und dramaturgisch sowie im Umgang mit dem Aufhänger „Reisen“. Dazu die spannenden unterschiedlichen Herangehensweisen und verschiedenen Stimmen, so sollte für jede Leserin und jeden Leser etwas dabei sein. Aber dennoch: Im Moment möchte ich nichts über Corona lesen. Ich möchte in andere Zeiten, andere Erzählungen entführt werden. Und diese Erwartungshaltung wurde leider nicht erfüllt.
Nun habe ich noch knapp die Hälfte des Buches vor mir und gerne werde ich es noch beenden. Nach und nach. Nur nicht jetzt.
Ansichtskarten – 25 Geschichten über das Reisen. Herausgeberin: Hanna Hesse. AutorInnen (u.a.): Terézia Mora, Lutz Seiler, Cihan Acar. Illustrationen: Jörg Hülsmann. Knesebeck. 2021.
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