Über Kunst, Komik und Chaos

von | 03.04.2018 | Belletristik, Buchpranger

Berlin-Kreuzberg, zu Beginn der 1980er Jahre: Erwin Kächele, der selbsternannte „Erfolgsgastronom“, will doch nur mit seiner schwangeren Freundin Helga in seiner kleinen Wohnung in der Fabriketage „zu zweit und friedlich und in Ruhe“ leben – ohne seine bisherigen Mitbewohner Karl Schmidt, Frank Lehmann, seine Nichte Chrissie und den Extremkünstler H. R. Ledigt. Damit stößt er eine Reihe von spektakulären wie witzigen Ereignissen an, die alle zu einem großen Ganzen gehören. Buchschatzmeisterin Rosi begibt sich auf eine Reise in die „Wiener Straße“.

Für seine Freunde mietet Erwin Kächele eine Wohnung über seiner Kneipe, dem „Einfall“. Eine gute Idee, findet er, doch die „Pfeifen“, wie er sie nennt, kaufen die Sachen, die sie für die Renovierung ihrer neuen Wohnung brauchen, auf Erwins Kosten im Baumarkt ein, lassen ihn die Einkäufe nach Hause fahren und in die Wohnung schleppen und dann steht er in der matt-schwarz gestrichenen Wohnung plötzlich im Dunkeln – wahrhaft ein Symbol für Erwins düsteren Gemütszustand.

Sven Regener beschreibt Erwin Kächeles Gedankengänge in einem einzigen Satz, der sich über die drei ersten Seiten des Romans erstreckt. In diesem nicht enden wollenden Konglomerat aus Wörtern zeigt sich Erwins Gedanken- und Gefühlswelt beeindruckend klar und deutlich, und weitergehend, wenn er „Mach doch mal Licht an“ ruft und sein Freund Karl sagt: „Ich finde hier keinen Lichtschalter“.

Schon der Beginn von Sven Regeners neuem Roman „Wiener Straße“ ist also spektakulär. In der Folge erzählt er in fünf Kapiteln viele kleine Episoden über die vielen unterschiedlichen Typen im Kreuzberg der 1980er: über Erwin und dessen nervige Nichte Chrissie und ihre Pläne im „Einfall“, über Erwins Schwester Kerstin, über die Hausbesetzer der ArschArt-Gruppe, über Künstler wie Karl Schmidt, P. Immel und H. R. Ledigt, über einen Kontaktpolizisten, den KOB, über den Sozialpädagogen und Möchte-gern-Kunstkurator Wiemer und natürlich über Frank Lehmann.

Rettung auf Österreichisch

Ein weiterer Höhepunkt der „Wiener Straße“ ist zweifellos die Rettung von Kacki, einem der Mitglieder der ArschArt-Gruppe. Kacki ist sozusagen der Favorit von Gruppenchef P. Immel, weshalb er als einziger der ArschArt-Mitglieder auch diesen besonderen Namen und einen kackbraunen Anzug tragen darf. Wie die anderen Mitglieder der Künstlergruppe ist Kacki Österreicher, was in West-Berlin keiner wissen darf. Bei Fernsehaufnahmen über die ArschArt-Gallerie sitzt der von Höhenangst geplagte Kacki mit seinem Stuhl am Rand des Daches und droht hinunterzufallen. Um dies zu verhindern und Kacki zu retten, macht sich P. Immel auf, seinen Freund aus der Gefahrenzone zu holen. Hierbei macht er die komischsten Bewegungen, die aberwitzigsten Verrenkungen und auch die anderen Mitglieder der Künstlergruppe spielen mit, wenn P. Immel sich zu Kacki quasi herabseilt.

Dem – ebenfalls österreichischen – Fernsehreporter Prohaska mutet dies wie eine spontane Performance an, begeistert lässt er die Geschehnisse vom Kameramann aufzeichnen. Die Leser können sich den Ablauf der Rettungsaktion vor ihrem geistigen Auge bildhaft vorstellen, auch hören sie im Kopf den typischen „Wiener Schmäh“, wenn P. Immel versucht, seinen Freund vom Rand des Daches wegzuziehen. Regener schreibt hier spannend und komisch zugleich und präsentiert sich als ein wahrer Meister der schreibenden Zunft!

Liebevoll überzeichnete Charaktere und die Frage nach Kunst

Die Figuren des Romans sind allesamt ein wenig überzeichnet, ohne jedoch dabei gekünstelt zu wirken. Erwins Nichte Chrissie etwa wirkt auf die Leser wie eine Nervensäge, immer zickig und auf Widerworte bedacht. Diese Eigenschaft hat sie anscheinend von ihrer Mutter Kerstin geerbt. Deren Diskussionen mit dem DDR-Grenzschutzbeamten lassen einem den Atem stocken, so offenherzig und frech sind sie. Man erwartet, dass sie jeden Augenblick von der DDR-Obrigkeit verhaftet wird, doch glücklicherweise darf sie weiterreisen, nachdem sie an der innerdeutschen Grenze die Strafe für ihren abgelaufenen Pass mit harter D-Mark-Währung bezahlt hat.

Der Extremkünstler H. R. Ledigt zeigt bereits zu Beginn des Romans in einem Baumarkt, wo er von seinen schusseligen Freunden einfach vergessen wurde, pathologische Züge, wenn er sich eine Kettensäge und eine Grabschaufel kauft. In der Folge lebt er seine pathologischen Züge knallhart aus, wenn er etwa cholerisch mit laufender Kettensäge im „Einfall“ herumhantiert und alles Mögliche zersägt, nur um zu zersägen. Doch ist es für ihn Kunst, wenn er heimlich in der Nacht nahe der Mauer, die Berlin damals teilt, verbotenerweise einen Baum absägt, den er dann später bei der Kunstaustellung „Die Haut der Stadt“ als ein Kunstwerk präsentieren will.

Überhaupt stellt sich immer wieder die Frage, was Kunst denn eigentlich ist. Etwa der verbrannte Kuchen, den Chrissie im „Einfall“ an eine Gruppe japanischer Touristen auf Sight-seeing-Tour verkauft? Die zugenagelten Holzkisten des Karl Schmidt in der „Neuen Neuen Nationalgalerie“, einer Auslage im Tresen des „Einfall“? Oder die Kunst- und Performanceaktionen in der Ausstellung „Haut der Stadt“? Hier muss sich jeder Lesende seine eigene Meinung bilden.

Prädikat: Besonders wertvoll!

Sven Regeners Roman „Wiener Straße“ ist abwechslungsreich, spannend und komisch zugleich geschrieben. Die herrlich überzeichnet dargestellten Charaktere, die allgegenwärtige Fäkalsprache und Wortspiele beschreiben in vielen kleinen Alltags-Episoden auf liebenswerte Art die Komik und das Chaos menschlichen Lebens und Miteinanders im Kreuzberg der 1980er Jahre. Sie werden zwar einzeln beschrieben, geschehen jede für sich quasi alleine; doch gehören sie alle zu einem großen Ganzen. Und in all der Hektik und bei all dem Chaos behält nur einer die Ruhe und den Überblick: Frank Lehmann.

„Wiener Straße“ ist ein sehr lesenswerter Roman, der von der ersten bis zur letzten Seite höchstes Lesevergnügen bietet. Für Fans von Frank Lehmann und des Schriftstellers Sven Regener, aber auch für Neulinge, ein absolutes Muss!

Wiener Straße. Sven Regener. Galiani Verlag. 2017.

Was sagen die Feuilletöne zum Roman „Wiener Straße“? Erfahrt mehr in der 228. Sendung! Wir wünschen viel Spaß beim Hören.

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