Über das E und U

von | 10.02.2018 | Buchpranger

Mariana Lekys Roman „Was man von hier aus sehen kann“ hat nicht nur den Preis als Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhändler 2017 gewonnen, sondern hat sich in letzter Zeit auch zum Liebling vieler Leser- und BloggerInnen gemausert. Nun ist es für den Preis der LiteraTour Nord im Rennen. Worteweberin Annika war Anfang Januar bei der Lesung im Café Ambiente in Bremen dabei und macht sich nun einige Gedanken darüber, was eigentlich gute Literatur ist.

„Inzwischen steht Ihr Roman seit Monaten auf der Bestsellerliste“, heißt es bei der Lesung im Rahmen der LiteraTour Nord in Bremen. Moderator und Literaturprofessor Axel Dunker lässt es fast wie einen Vorwurf klingen. „Was man von hier aus sehen kann“ ist ein Roman, der begeistert gelesen und gekauft wird, so viel ist sicher. Trotzdem wird er, wie auch im Rahmen des die LiteraTour Nord begleitenden Seminars, teilweise als mehr oder minder banale Unterhaltungsliteratur abgetan (über das E und U später mehr). Sagt das Gelesenwerden eigentlich etwas über die Qualität eines Romans aus? Um das zu klären drängt sich vorher noch eine andere Frage auf: Warum findet gerade „Was man von hier aus sehen kann“ so viele LeserInnen?

Cocooning und das Lagom

In einer Zeit, die für viele Menschen unüberschaubar und bedrohlich scheint, verspricht Lekys Roman das Gegenteil davon, aufbereitet für den Nachttisch: gemütlich, menschenfreundlich, überschaubar, aber auch – und das ist ganz wichtig – ohne seine LeserInnen für dumm zu verkaufen. Der Wunsch nach Gemütlichkeit und Geborgenheit, den finden wir heute überall. Er zeigt sich im Interesse für die „LandLust“, für die dänische Gemütlichkeit hygge und das schwedische Mittelmaß lagom. Ein Traum von Bullerbü? Genannt wird er in der Wissenschaft Cocooning, dieser Wunsch nach Geborgenheit und Ruhe, nach dem Rückzug ins Private, der sich auch bei Leky suchen und finden lässt. Denn auch in „Was man von hier aus sehen kann“ ist vieles lagom: Mit einem japanischen Mönch, der eigentlich aus Hessen stammt, lassen die Charaktere gerade lagom viel „Welt hinein“, wie das der Vater der Protagonistin immer fordert.

Die ernsten Themen wie der Tod (und zudem der Tod von Kindern) scheinen gebrochen durch den Humor gerade lagom schlimm, um sie vor dem Einschlafen verkraften zu können. Das Personal in Lekys Roman ist begrenzt, die Dorfgemeinschaft fast eine kleine Familie. Aber ist das schlimm? Eines jedenfalls ist es nur bedingt, nämlich überraschend. Wenig verändert sich im Dorf im Westerwald und als Leserin kann ich mich dabei gemütlich zurücklehnen und muss ebenfalls nicht zu viel „Welt reinlassen“. Aber, noch einmal, ist das eigentlich schlimm?

Für Leky scheint das Cocooning keine wirkliche Rolle zu spielen, antwortet sie doch auf die Frage des Moderators eher abwiegelnd. Ihr ginge es um die Geschichte, und die habe nun mal nach einem kleinen, ländlichen Rahmen verlangt. Das ist gut möglich, aber nicht immer hat ja bekanntlich die Absicht der AutorInnen damit zu tun, wie ein Text dann gelesen wird. Zumindest könnte die Sehnsucht nach dem Einfachen und dem Schönen das große Interesse an „Was man von hier aus sehen kann“ erklären. Darauf reduzieren kann man den Roman aber sicherlich nicht, was man schon an den Reaktionen bei der Lesung ablesen kann.

Lachen, Weinen und Goethe

Gegen Ende der Lesung in Bremen bricht jedenfalls ein wahrer Begeisterungssturm unter den Gästen im Café Ambiente aus. So viele sind an diesem Sonntag gekommen, dass die Lesung sogar in einen größeren Raum verlegt werden musste. Viele wollen der Autorin für diese schöne Geschichte danken, berichten davon, wie viel sie beim Lesen gelacht und geweint haben und wie sehr sie die Figuren beeindrucken. Ja, Lekys Roman bewegt, und zwar nicht nur eine elitäre Kleingruppe von Literaturprofessoren (die wahrscheinlich gerade nicht), sondern sehr viele Menschen. Dieses Buch zu lesen macht anscheinend vielen eine Freude – mir übrigens auch. Und auch wenn es in „Was man von hier aus sehen kann“ vielleicht manchmal beschaulich und lagom zugeht, beweist der Roman doch ein Gespür für feine Nuancen und für die Sprache.

Warum das aber irgendwie egal zu sein scheint, hängt mit dem E und dem U zusammen. In der deutschsprachigen Literatur unterscheidet man gemeinhin E-Literatur (ernste Literatur) und U-Literatur (unterhaltende Literatur). U-Literatur verirrt sich eher selten in die Hände von Professoren und sogenannten Intellektuellen, in Seminare an der Universität oder auch in die Auswahl für einen Literaturpreis. Das mag daran liegen, dass schon Goethe damals Unterhaltung minderwertig fand und meinte, sie habe in der Literatur nichts zu suchen. Und wenn Goethe das meinte, dann sehen wir das heute wohl immer noch so.

Mehr als nur schwarz und weiß – Okapi-Literatur?

Aber wieso eigentlich? Kann es nicht Literatur geben, die unterhält, und trotzdem auch Ansprüchen gerecht wird? Die uns bewegt, und trotzdem künstlerisch ist? Die ihre LeserInnen nicht für dumm verkauft, aber sie auch nicht überfordert und in eine abgehobene Welt ohne Anführungszeichen entführt, nur um besser zu sein? Natürlich gibt es auch wunderbare E-Literatur, die leider viel zu wenig gelesen wird. Und natürlich hängt es nicht nur von der Qualität eines Romans ab, ob er viele LeserInnen findet, sondern immer auch vom Marketing und der Überzeugungskraft von Verlagen und anderen Menschen. Dennoch, bei Literatur sollte es meiner Meinung nach auch um die Menschen gehen. Ein Platz auf der Bestsellerliste allein sollte keine Rechtfertigung für Kritik sein.

Eine eigene Meinung ist natürlich gleichwohl immer in Ordnung und jedem Literaturprofessor steht es vollkommen frei, einen Roman nicht zu mögen, egal ob E oder U. Schön ist es doch immerhin, dass durch eine Veranstaltung wie die LiteraTour Nord auch mal ein etwas unterhaltsamerer Roman seinen Weg in die heiligen Hallen der Universität finden kann, unabhängig davon, wie er dort dann aufgenommen wird. Vielleicht regt er sogar dazu an, sich Gedanken über die E- und U-Schubladen in unseren Köpfen zu machen und darüber, ob nicht manche Romane so sind wie Okapis – man kann sie in keine Schublade einsortieren.

Illustration: Satzhüterin Pia

http://buecherstadtkurier.com/das-okapi-und-der-tod/

Annika Depping

Annika Depping

Als Chefredakteurin versucht Annika in der Bücherstadt den Überblick zu behalten, was mit der Nase zwischen zwei Buchdeckeln, zwei Kindern um die Füße und dem wuchernden Grün des Kleingartens im Nacken nicht immer einfach ist. Außerhalb der Bücherstadt ist Annika am Literaturhaus Bremen mit verschiedenen Projekten ebenfalls in der Welt der Geschichten unterwegs.

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