Wir wachen auf.
Um uns herum nur Bäume.
Wir wissen nicht, wie und warum es zu der Entscheidung kam, auf dem Waldboden zu schlafen.
Und doch scheint es uns allen eine gute Entscheidung gewesen zu sein: Wir können uns in unseren Leben, in unseren gemeinsamen 1000 Jahren, an keinen Schlaf erinnern, der so erholsam war. Vielleicht gab es so einen Schlaf in unseren Mütterbäuchen, an den sich niemand von uns erinnern kann. Der Schlaf, aus dem wir gerade erwacht sind, war mehr als die unruhige Unterbrechung des Tageswerks, war mehr als die notwendige Pause, um kurzfristig zu neuen Kräften zu kommen.
Es war kein rückwärtiger Schlaf: Wir träumten nicht von unseren Erinnerungen, verarbeiteten nicht einfach, was uns widerfahren ist. Wir träumten nicht archivarisch, wir träumten visionär. Wir träumten uns eine Zukunft, die wir im Traum, mit dem Traum vor uns ausgelegt haben. Unser Traum verblasst nicht, wird nicht schummrig oder gerät in Vergessenheit, wie es unseren Träumen sonst widerfährt.
Wir schauen uns um.
Wir wissen genau, was unsere Augen suchen, über den Bäumen.
Eine Wolke versperrt uns die Sicht.
Ein anderer Wind als der, der uns ins Gesicht weht, schiebt die Wolke beiseite.
Dahinter zeigt sich, was wir so sehnlich sehen wollten: die Sonne.
Früher haben sie uns gesagt, wir sollen nicht direkt in die Sonne schauen, wir würden erblinden.
Doch wir vergessen diese Warnung und schauen direkt in die Sonne. Wir sehen sie genau an.
Die Sonne ist unsere Zeit.
Sie war uns immer ein stummer Zeuge. Wir versuchten unsere Scham vor ihr in der Nacht zu verstecken. Wenn wir allerdings stolz waren, froh, glückselig, dann wollten wir sie es sehen lassen.
Bisher war uns die Sonne nicht mehr als eine brennende Kugel. Weniger: Eine leuchtende Scheibe am Himmel.
Jetzt sehen wir mehr.
Wir sehen die Wirbel der Flammen auf ihrer Oberfläche, wir erkennen die Unebenheiten unter dem Feuer. Die Sonne ist uns nicht mehr eine einheitliche gelbe Fläche. Endlose Farbe, in einem harmonischen Spiel: Ein Strahlen von Gelb, ein Aufblitzen von Orange, ein Stechen von Rot. Unsere Augen tränen. Nicht, weil uns das Licht die Hornhaut verbrennt. Wir sehen zum ersten Mal die Schönheit der Göttin, die uns Jahrtausende am Leben erhalten hat. Vielleicht wird sie uns auch jetzt retten.
Wir wollen zu ihr.
Möglicherweise ist es kein Verlassen und stattdessen eine Heimkehr.
Wir sind uns sogar ziemlich sicher.
Woher auch immer wir gekommen sind, wir sind auf ihren Lichtstrahlen ins Leben gekommen.
Wir machen uns auf den Weg zurück. Wir laufen durch den Wald, den Blick immer auf unseren Ursprung gerichtet. Wir haben das Gefühl, dass wir sie nicht aus den Augen verlieren dürfen, sonst würden wir den Weg nicht finden.
Dass niemand von uns stürzt, über eine Wurzel stolpert, scheint uns ein Zeichen zu sein.
Natürlich helfen uns die Bäume auf unserem Weg. Diese Lebewesen, die in so großer Verbundenheit zur Sonne leben, stellen sich ihren Wünschen nicht in den Weg.
Der Weg fällt uns trotzdem nicht leicht. Wir haben Angst, wir sind uns unsicher.
Bilden wir uns alles nur ein? Ruft uns die Sonne überhaupt?
Wer kann uns versprechen, dass wir ihr vertrauen können? Dass sie uns nicht nur täuschen will, uns in den Abgrund führt?
Die Augen auf sie gerichtet, vertrauen wir ihr blind.
Vielleicht ist es unsere letzte Möglichkeit, Vertrauen zu haben. Der letzte Vertrauensbeweis, den wir erbringen wollen und können.
Doch die Angst bleibt in unseren Herzen.
Wir wissen nicht, wo wir hintreten. Ein gebrochenes Bein wäre das Ende der Reise und die Sonne lässt uns nicht auf den Boden schauen, um Löchern auszuweichen. Wir können nur hoffen, dass es keine auf unserem Weg gibt, oder dass wir sie zumindest mit unseren tastenden Füßen entdecken können.
Wir wissen nicht, wo die Tiere sind. Vielleicht täuscht uns die Sonne nicht nur, legt beiläufig eine falsche Fährte. Vielleicht lockt sie uns in eine Falle, die sie ganz bewusst geschaffen hat. Wir haben gehört, dass in diesem Wald besonders giftige Schlangen leben. Schlangen – sie leben, wie das Kleinkind an der Brust, saugen das Licht der Mutter Sonne. Sie würden bestimmt alles für sie tun.
Aber sollten wir sterben, dann hatten wir wenigstens Hoffnung, ein Ziel und Schönheit vor unseren Augen.
Und die Angst, die an unseren Beinen langsam hinauf in unseren Kopf kriecht.
Wir wissen nicht, wie lange wir schon unterwegs sind. Hat die Sonne die Nächte vor uns verborgen? Waren es Stunden oder Minuten? Weit hinter uns hören wir immer noch die Schreie, das Weinen. Wir geben keine Geräusche von uns. Wir sehen uns nicht. Wir sind uns dennoch sicher, dass wir beieinander sind. Wir hoffen, dass wir uns nicht verloren haben.
Es ist uns wichtig, zusammen zu sein, zusammenzugehören. Wichtiger als früher. Jeder von uns erinnert sich daran, wer die anderen waren. Jetzt schwindet dieses Wissen. Wir vergessen mit jedem Schritt mehr. Gleichzeitig erfahren wir so viel, so viel Ungeahntes.
Die Sonne verschleiert sich. Ihre Farbenvielfalt verbirgt sich vor unseren Augen, als sie sich wieder hinter einer Wolke versteckt.
Wir fühlen Einsamkeit.
Die Sonne hat uns verlassen. Wir sind auf uns allein gestellt.
Wir sehen trotzdem weiterhin zu ihrer Silhouette, während wir langsam stehen bleiben.
Wir sehen uns weiterhin nicht an, geben weiterhin kein Geräusch von uns.
Es ist eine Prüfung, alles ist eine Prüfung. Das wird uns langsam klar. Haben wir Vertrauen, wie gehen wir mit Verlust um, können wir kämpfen?
Wir müssen ohne ihre Führung weiter.
Wir sehen durch die Bäume, Äste und Blätter. Wir sehen in einiger Entfernung eine Erhebung. Dort scheint sie. Wir nehmen es als Fingerzeig. Denn mehr haben wir nicht.
Wir machen uns also auf den Weg durch die Ebene.
Wir sehen uns nicht an, sprechen nicht miteinander.
Die Nacht, mondlos, macht uns einsam.
Wir essen nicht. Wir trinken nicht.
Wir erreichen den Gipfel, während uns die Sonne zusieht.
Nach diesem Augenblick haben wir uns gesehnt, uns danach verzehrt. Endlich können wir sie wieder sehen, in all ihrer Pracht.
Wir genießen ihre feurigen Farben und ihre Wärme.
Gedanken strömen in unseren Kopf. Es ist die letzte Station unserer Reise.
Unser Schweigen, unser Starren, unser stumpfes Stapfen hat ein Ende.
Wir schauen uns um, besprechen unseren Plan. Wir reden nicht wild durcheinander. Wir wechseln uns ab. Es gibt nur einen Text, den wir unter uns aufteilen.
Wir finden eine Hütte. Früher hat sie wohl Wanderern oder Jägern gehört.
In der Speisekammer finden wir Vorräte, Nahrung in allen Formen, in Gläsern und Dosen. Wir tragen alles in die Küche. Schweigend essen wir alles auf. Wir lassen nichts über. Wir brauchen es später nicht mehr.
Hinter der Hütte finden wir Werkzeug: Äxte, Schaufeln, Hämmer – alles, was wir brauchen. Wir beginnen stumm und zielstrebig zu arbeiten.
Jeder von uns kennt seine Aufgaben, wird zu einem Arm unseres Vorhabens. Wir graben, sägen, hobeln.
Die Sonne beobachtet uns.
Als unsere Leiter zu lang geworden ist für die Lichtung, auf der wir arbeiten, stellen wir sie in das Gerüst. Wir müssen vertikal weiterarbeiten.
Am Boden fällen wir Bäume und zerschneiden sie zu Sprossen und Streben. Wir die Leiter herauf, bilden eine Kette, reichen die Bauteile weiter.
Immer weiter wächst unsere Leiter in den Himmel, gen Sonne.
Von oben sehen wir Ruinen. Früher dachten wir, sie gehörten zu einer Stadt eines längst vergessenen Königs. Jetzt erkennen wir, dass es die Grundmauern eines Turms sind. Uns wird klar, dass wir nicht alle das Ziel erreichen können. Manche von uns werden keine Zeit, keine Kraft mehr haben für das letzte Stück – wir werden kleiner.
Doch sie arbeiten weiter. Vielleicht merken sie es gar nicht. Das glauben wir nicht. Wir erinnern uns an den Schmerz, als die Sonne sich verschleiert hat. Und sie müssen jetzt ihre Augen bedecken, wenn sie Bauteile nach oben reichen. Die Sonne lässt sie schwitzen, wird ihnen zur Last. Doch sie arbeiten weiter. Vielleicht hoffen sie, dass es wieder endet. Das zu glauben, halten wir für aussichtslos: Warum sollte die Sonne sie sonst überhaupt im Stich lassen? Sie arbeiten weiter, weil sie den Traum kennen, weil sie wir waren.
Wir steigen die Leiter weiter hinauf, den Blick immer zur Mutter Sonne gewendet. Das Gefühl der Sonnenstrahlen auf unserer Haut verändert sich. Vorher war es ein warmer Hauch, jetzt wird es ein Prickeln.
Wir steigen die Leiter weiter hinauf. Wir können das Licht jetzt in den Händen spüren. Die Sonne streichelt nicht länger mehr nur uns, wir streicheln auch die Sonne. Wollte sie nicht mehr länger die Verfluchte und Unberührbare sein? Ihren Strahlen wurde kompromisslose Gewalt zugesprochen, dabei war es nur ihre Sehnsucht nach uns, mit der wir nicht umgehen konnten.
Wir steigen die Leiter weiter hinauf. Wir greifen in das Licht und ziehen einzelne Fasern heraus. Es kann nicht mehr lange dauern. Bald können wir uns am Licht hochziehen. Sobald sich einer von uns von der Leiter gelöst hat, lassen wir die Bauteile aus den Händen fallen und eilen nach oben.
Das Leuchten der Sonne wird langsam schwächer. Unser Korridor aus Licht zerfällt. Die Übrigen stehen unten und sehen zu, wie wir uns von der Leiter abstoßen. Sie wissen, dass es keinen Sinn hat, die Leiter zu besteigen – die Nacht kommt.
Ein Wind kommt auf. Wir spüren ihn ins Gesicht beißen. Er weht das Licht fort. Wir müssen uns strecken, um es festzuhalten. Die Angst kehrt wieder.
Mit letzter Kraft schaffen wir es. Alles um uns leuchtet. Und in uns das Gefühl, angekommen zu sein.
Ungesehen von uns weht der Wind unter uns weiter. Rüttelt an unserer Leiter, als sei er zornig. Die Leiter war nicht für die Ewigkeit.
Unten stehen die Zurückgebliebenen und schauen, wie der Wind gegen die Leiter schlägt, bis sie zerbricht.
Es beginnt zu regnen. Die Tropfen fallen den Zurückgebliebenen in die Augen. Zu einem Teil Licht, das letzte Licht der Sonne. Zu zwei Teilen Wasser. Zu einem Teil große Splitter von der Leiter, die sich langsam auflöst – so wie sich alles um sie herum langsam auflöst.
Thilo Körting
www.schraeglesen.de
Foto: Wortklauberin Erika
Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 29.
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