„Something is rotten…“ – Düstere Zelebrierung des Zerfalls

von | 19.10.2015 | Filme, Filmtheater

Kino? Hirnlose Blockbuster ohne Anspruch! Theater? Einschläfernd und unzeitgemäß! Beides zusammen? Kann unmöglich funktionieren! Von wegen! Buchstaplerin Maike hat sich am vergangenen Donnerstag im CinemaxX Bremen „Hamlet“ angesehen und ist fasziniert von der morbiden Aufführung. Die Live-Übertragung des international gefeierten Stücks des Londoner Barbican Centre wartet mit Benedict Cumberbatch in der Titelrolle auf, doch das ist nicht der einzige Grund, warum sich ein Besuch lohnt.

Die Grundhandlung von Shakespeares „Hamlet“ (1603) sollte zur Allgemeinbildung gehören: Der dänische Prinz Hamlet trauert um seinen ermordeten Vater. Der Mörder ist niemand anderes als Hamlets Onkel Claudius, der den Thron an sich reißt und Hamlets Mutter zur Frau nimmt. Vom Gespenst des Vaters heimgesucht, sinnt Hamlet nach Rache und versucht, Claudius ein Schuldeingeständnis abzuringen. Währenddessen droht Hamlet dem Wahnsinn zu verfallen, und nicht nur er. Familien und Nationen schreiten unaufhaltsam einer Tragödie entgegen.

http://www.youtube.com/watch?v=SxraXR_tfSA

Brüchigkeit und Zerfall durchziehen das ganze Stück: Hamlets, aber auch Ophelias Familie zerfallen, während sie gegen den Wahnsinn kämpfen und verlieren. Nationen drohen unterzugehen, da Dänemark kurz vor dem Krieg mit Norwegen steht. Und auch Komik und Ernst stehen in einer unbequemen, fatalen Nähe – so sorgen Hamlets Phasen des Wahnsinns für Lacher – etwa, wenn er sich in einem Spielzeugschloss gesäumt von Nussknackerstatuen verschanzt, nur um innerhalb von Sekunden vom kindischen Trotz zu verstörendem Ernst und Verletzlichkeit zu wechseln. Doch nicht nur Cumberbatchs Leistung ist hervorzuheben. Ciarán Hinds spielt den Claudius als strengen Patriarchen, der zwar zum Schluss Reue durchblicken lässt, für den es aber kein Zurück mehr gibt. Und Siân Brooke als Ophelia sorgt Gänsehaut und unbehagliche Rührung, bevor sie, von Trauer und Wahn gebrochen ins Wasser geht.

Hamlet„To be or not to be…“

Das Bühnenbild beginnt minimalistisch, weitet sich aber zur überlebensgroßen Opulenz eines Sissi-Filmes aus. Doch es ist immer düster, erfüllt mit einer Aura des Morbiden. Schattenspiele und aufwändige Lichteffekte sorgen für eine schaurige Grundstimmung. Der für das NT Live typische Schnitt und eindrucksvolle Special Effects lassen die Grenze zwischen Theater und Film stellenweise verschwimmen. Schnellt fällt auf, dass die hauptsächlich militärischen Kostüme und die Requisiten anachronistisch zusammengewürfelt scheinen. Aber das stört nicht, im Gegenteil: Es wirkt wie eine weitere Erscheinungsform des Zerfalls scheinbar fester Kategorien.
Das Stück folgt dem Original und ist daher dominiert von der Elisabethanische Sprache. Doch an die gewöhnt man sich – auch wegen der Untertitel – recht schnell. Die schauspielerische Leistung gleicht etwaige Textschwierigkeiten für die Zuschauer allemal aus.

Übertragungen des National Theatre Live sind eigentlich immer sehenswert und ziehen durch aufwändig produzierten Theater-Kino-Hybriden ein bunt gemischtes Publikum an. Diesmal liegt es wohl vor allem an Cumberbatch, dass das Stück ein Kassenschlager wird – was sich schon an den Vorverkaufszahlen des eigentlichen Theaterstückes zeigt – aber seine Leistung rechtfertigt auch den Hype. Teenager mit Reclamheften, aufgeregte Cumberbatch-Fans und mutmaßliche Theatergänger in feinem Zwirn füllen den Kinosaal.

Fazit: Die Atmosphäre eines klassischen Theaterstücks und die Faszinationen eines schaurigen Blockbusters ergänzen sich in „Hamlet“ sehr gut. Shakespeare findet hier ein junges Publikum. Wer kann, sollte sich die Wiederholung von „Hamlet“ oder ein anderes Stück von NT Live im Kino ansehen – genügend Sitzfleisch und ausreichende Englischkenntnisse vorausgesetzt.

National Theatre Live: Hamlet. William Shakespeare. Regie: Lyndsey Turner.
Darsteller: Benedict Cumberbatch, Ciarán Hinds, Siân Brooke. 200 Minuten. OmU, UK, 2015.

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

5 Kommentare

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    Sehr schön! Das würde mich auch interessieren. Die Kinos, in denen die Wiederholung läuft, scheinen allerdings dünn gesät zu sein.

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    • Avatar

      Hallo Wolfgang,
      Es lohnt sich!
      Dass es nicht überall wiederholt wird, ist mir leider auch aufgefallen, aber vielleicht kommen bei großer Nachfrage wieder mehr Städte dazu?

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  2. Avatar

    es laufen tatsächlich Wiederholungen! Laufen auch noch welche an anderen Standorten innerhalb Deutschlands? Ich wohne in Hessen und halte es für unwahrscheinlich, dass ich so spontan nach München komme… aber Hamlet ist eines meiner Lieblingsstücke von Shakespeare und ich liebe Benedict Cumberbatch!

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      Das ist ja toll! Auf der Website von ntlive wird angezeigt, wo Screenings kommen, vielleicht ist da was in deiner Nähe?

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