London in den 1920ern, ein sprechender Papagei, spiritistische Sitzungen, Oscar Wildes Geist… Eine wilde Mischung an Themen ergibt Alexander Pechmanns auf Tatsachen beruhenden Roman „Die Nebelkrähe“. Worteweberin Annika hat an den Séancen teilgenommen.
Alles beginnt mit einer seltsamen Stimme, die Peter Vane aus dem Trott wirft. Nicht, dass Peter überrascht davon wäre, Stimmen zu hören. Seit er aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt ist, gehören Gespräche mit seinem mutmaßlich verstorbenen Freund Finley zu seinem Alltag. Aber diese Stimme ist anders. Sie führt ihn direkt in die Arme des Mediums Hester Dowden und zu einer spiritistischen Gesellschaft.
Gratwanderungen
Allerdings ist Peter sich als rational denkender Mann – er promoviert gerade in Riemann’scher Geometrie – unschlüssig, was er von Geistern halten soll. Zumal wenn die behaupten, als Oscar Wilde aus dem Jenseits zu ihm zu sprechen. Peter und mit ihm die Leserinnen und Leser bewegen sich in „Die Nebelkrähe“ auf dem schmalen Grat zwischen Lüge und Wahrheit.
„Das erste Axiom der Wilde’schen Geometrie könnte lauten: Eine schöne Lüge ist glaubwürdiger als eine hässliche Wahrheit. Vielleicht war es Zeit, sich den hässlichen Wahrheiten zu stellen?“ (S. 144)
Neben Peter nimmt Oscar Wildes Nichte Dolly einen wichtigen Part in der Handlung ein. Ihre Fahrkünste sind halsbrecherisch, sie liebt den Luxus, verkleidet sich gerne als ihr Onkel und hält nicht allzu viel von guten Manieren. Dolly symbolisiert damit die „neue Frau“ der 1920er Jahre, hat allerdings auch mit dem Erbe ihres Onkels zu kämpfen. Bei Peters Suche nach einer Wahrheit ist sie ihm eine große Hilfe.
Zeugnisse der Vergangenheit
„Die Nebelkrähe“ erinnert an einen Krimi: Peter und Dolly fahren auf der Suche nach Erkenntnissen durch London und befragen Zeugen. Sie sprechen mit Drogenbossen, Antiquitätenhändlern und einer opiumsüchtigen Prinzessin, die stets von ihrem Papagei Coco begleitet wird. Was hat es mit dem Namen Lily auf sich, den die seltsame Stimme Peter ins Ohr raunte? Wen zeigt das Kinderfoto, das Peter kurz vor dessen Verschwinden von Finley erhielt? Und warum mischt Oscar Wilde sich eigentlich ein?
Die spannende Spurensuche führt schließlich bis in Peters eigene Vergangenheit. Doch wenn man es mit Geistern und dem Freund der schönen Lüge Oscar Wilde zu tun hat, kann man dann eigentlich die Wahrheit herausfinden? Am Ende dürfen sich auch die Leserinnen und Leser entscheiden, woran sie glauben möchten.
Mr. V
Wie schon in seinem ersten Roman „Sieben Lichter“ hat sich Alexander Pechmann für „Die Nebelkrähe“ einen seltsamen Fall aus der Vergangenheit zur Brust genommen. Hester Dowden gab es nämlich wirklich und die Sitzungsprotokolle sind aus einem von ihr veröffentlichten Buch übersetzt. Die Gespräche mit Oscar Wilde führte ein unbekannter „Mr. V“, dessen Hintergrund im Roman ausfabuliert wird.
Auch viele weitere Figuren und Schauplätze gab es in den 1920er Jahren in London wirklich, wie man im Anhang nachlesen kann. Damit beweist der Autor erneut sein Talent zur Recherche – und dazu, auf Fakten fantasievolle Geschichten aufzubauen. „Die Nebelkrähe“ ist dabei unterhaltsam, rätselhaft und stimmungsvoll. Was will man mehr?
Die Nebelkrähe. Alexander Pechmann. Steidl. 2019.
[tds_note]Ein Beitrag zur Themenwoche #1920erlesen. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
Weiterlesen:
- Interview mit Alexander Pechmann
- Rezension zu „Sieben Lichter“ von Alexander Pechmann
Illustration: Satzhüterin Pia
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