Requiem for a woman

von | 28.08.2020 | Belletristik, Buchpranger

Annie Ernaux gilt als eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit. Kaum eine versteht es wie sie, das Bild einer ganzen Gesellschaft zu schreiben und dabei dennoch persönlich und einfühlsam zu bleiben. In diesem Jahr erschien erstmals die deutsche Übersetzung ihres bereits 1987 erschienenen Textes über ihre Mutter. Bücherstädterin Zarah hat nicht lange gezögert und sich das nur 89 Seiten kurze Büchlein zu Gemüte geführt.

„Meine Mutter ist gestorben, am Montag, den 7. April, im Altersheim des Krankenhauses von Pontoise, in dem ich sie vor zwei Jahren untergebracht habe. Der Pfleger sagte am Telefon: ‚Ihre Mutter ist heute Morgen nach dem Frühstück von uns gegangen.‘ Das war gegen zehn Uhr.“ Mit diesem Absatz beginnt Annie Ernauxs „Eine Frau“ und was da so simpel und sachlich eingeleitet wird, steht im Gegensatz zu der Fassungslosigkeit, die der Tod mit sich führt.

Nur dreizehn Tage nach dem Tod setzt sich die Schriftstellerin hin und beginnt zu schreiben, sie beginnt mit diesem Absatz, schreibt sich an ihre Mutter heran und am Ende der knapp 90 Seiten wird sie sich an einige Details aus den ersten Tagen gar nicht mehr erinnern. Dass sie gar nicht anders kann, als zu schreiben, wird bereits nach wenigen Seiten deutlich. Während alle um sie herum versichern, dass der Tod der demenzkranken Mutter sie im Grunde doch erlöst hätte, versucht Ernaux zu begreifen: Was bedeutet es, wenn eine Person einfach verschwindet, wenn dieses eine Leben einfach vorbei ist?

Kampf um sozialen Aufstieg

Es ist ein langsames Herantasten an die Figur. Ernaux will ihr Leben erzählen, sie will diese Frau erzählen und mit ihr die Zeit, die sie geprägt hat. Ein Requiem nennt der Klappentext dieses Erzählen, schmerzhaft, kurz, zärtlich, schamvoll und das trifft sehr gut Ernauxs Ton. Sie schreibt, was für eine Frau ihre Mutter war, welche Ansprüche diese Frau an das Leben hatte, von welchen gesellschaftlichen Normen sie geprägt war. Ernaux erzählt von einer Kindheit kurz nach der Jahrhundertwende, vom Traum eines eigenen Ladens, von Unabhängigkeit, von Kindestod und Ehe, von einem großen Lebenswillen.

Die Frage nach dem, was die Leute sagen und der stetige Wunsch nach sozialem und finanziellem Aufstieg bleiben ständig die Beweggründe des Handelns der Mutter. Als die Tochter es dann tatsächlich schafft, wovon die Mutter immer geträumt hat, in einen Vorort von Paris zieht, Schriftstellerin wird und in einen höheren sozialen Status heiratet, wird die Distanz zwischen beiden immer größer. Zeitweise lebt die Mutter bei der Tochter, nur um dann letztlich doch aufs Land zurückzukehren, dorthin, wo sie einen Namen hat.

Demenz, eine ungeheuerliche Krankheit

Die Demenz der Mutter entwickelt sich schleichend. Annie Ernaux schreibt von den Schwierigkeiten, die diese Krankheit mit sich bringt, auch von den Veränderungen im eigenen Leben. Sie nähert sich ihrer Mutter wieder an, kümmert sich um sie, versteht langsam immer besser, was sie bewegte.

In zehn Monaten der Jahre 1986 und 1987 entsteht dieses Requiem und es liest sich von der ersten bis zur letzten Seite in einem tiefen Eintauchen: ein Eintauchen in eine Epoche, in ein Milieu, in ein Leben. „Jetzt habe ich das Gefühl, als schriebe ich über meine Mutter, um sie dadurch zur Welt zu bringen“, heißt es an einer Stelle und genau das gelingt der Schriftstellerin – zwischen den Seiten ersteht eine Frau wieder auf. Das ist so tief berührend und zärtlich, dass das Buch kaum aus der Hand gelegt werden kann. Abschnitt für Abschnitt eröffnet sich der Blick durch ein Schlüsselloch – auf eine ganze Welt.

Eine Frau. Annie Ernaux. Aus dem Französischen von Sonja Finck. Suhrkamp. 2020.

Bücherstadt Magazin

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