Die junge Frau zu beschatten war schwierig. Denn sie waren nur zu viert, als ihr Beschattungsobjekt den Modeladen am Kudamm verließ, ohne etwas gekauft zu haben: die drei jungen Ermittlerinnen Jana, Mia und Ulli sowie ihr etwas älterer Kollege Maik. Eine professionelle Observierung war so von vornherein eingeschränkt, aber es herrschte krankheits- und urlaubsbedingt Personalmangel.
Mittags hatte sich die dunkelhaarige Frau mit dem eurasischen[1] Aussehen am Alexanderplatz mit Janik getroffen, einem Ex-Stasi-Agenten, der von einem Informanten als Überbringer des berühmten Kryger-Diamanten genannt worden war. Seitdem war das Team von der „Abteilung für besondere Aufgaben“ dem Beschattungsobjekt überallhin gefolgt, während die Eurasierin sich zu Fuß oder mit den Öffentlichen durch Berlin bewegt hatte. Mittlerweile war es nach 18 Uhr, sie betrat das Café Kranzler, nahm Platz, bestellte etwas. Bald bekam sie einen Saft, trank ihn in Ruhe aus, zahlte, stand ohne Eile auf und setzte ihren Bummel so gemächlich wie zuvor fort.
Ob die Übergabe an die Frau überhaupt stattgefunden hatte – beispielsweise während der begrüßenden Umarmung mit Janik – war von keinem der Observierenden zweifelsfrei bemerkt worden. Trotzdem durfte sie nicht aus den Augen gelassen werden. Das Team verwendete für die junge Dame den Codenamen „Miss Diamant“, denn der Informant kannte ihren Namen nicht. Es war nur mitgeteilt worden, dass Janik mittags am Alex einer Frau den verschollenen Diamanten übergeben würde, die ihn als Kurierin zu dem untergetauchten „König der Diamantenschmuggler“ Schmitt bringen sollte – und die Ermittler zu ihm führen, so deren Hoffnung. Zwei Fliegen mit einer Klappe also – Schmitt und der Edelstein!
Je mehr Zeit verstrich, desto faszinierter war Maik von Miss Diamant. Sie war schlank, etwa 1,70 m groß, ihre Bewegungen die einer Tänzerin, während sie in Richtung Gedächtniskirche ging. Kraftvoll, geschmeidig. Flache Absätze trug sie. Dunkle, kurze Haare, schräg gestellte Augen, vielleicht Ende 20. Maik, aus Treptow stammend, blond, stämmig, war mit seinen 35 Jahren zwar ein Profi, aber auch nur ein Mann … Oh, diese Miss Diamant, wie eine Katze bewegte sie sich auf dem Trottoir des Kudamms! Und hinter ihr er, der mittels seines unauffälligen Rucksacks, in dem sich Mützen, Brillen und andere Accessoires befanden, ständig sein Aussehen verändert hatte, wenn er von Mia, Jana oder Ulli bei der unmittelbaren Observierung abgelöst worden war. Jetzt trug er eine blaue Baseballkappe, unter deren Schirm hervor er nachdenklich Miss Diamant hinterherschaute. Wo die Eurasierin wohl den Edelstein versteckte, wenn sie ihn denn bekommen hatte? Von ihrer linken Schulter hing eine Handtasche herab, auf der ihre linke Hand ruhte. Bewahrte sie dort etwas so Wertvolles wie den berühmten Diamanten von Leo Kryger auf?
Jener Kryger war vor ’33 eine schillernde Größe der Berliner Gesellschaft gewesen, das wusste Maik. Mit Haus in Dahlem, ursprünglich aus Galizien stammend – er hatte vorher in Lemberg und Krakau gelebt. Leider war ihm die Flucht vor den Nazis nach Übersee nur ohne den Diamanten gelungen, der einst der letzten Zarin gehört hatte. Der Edelstein war den Gerüchten nach der SS in die Hände gefallen. Und nach dem Krieg hatte man den Diamanten nicht wiedergefunden, unverrichteter Dinge war Kryger in die USA zurückgekehrt. Es hatte vage Hinweise gegeben, dass sich der Diamant in Ost-Berlin befand, aber vor den Kommunisten hatte er zu große Angst gehabt. Kryger war dann 1953 in den Staaten gestorben. Aber jetzt, dachte Maik, waren er und seine Kolleginnen hoffentlich kurz davor, den Diamanten aufzuspüren!
Inzwischen hatten die Eurasierin und ihre Verfolger die Gedächtniskirche erreicht, welche sich zu ihrer Linken erhob. Da strebte Miss Diamant auf einmal dem Hertha[2]-Fanshop am Breitscheidplatz entgegen, wohin ihr Jana folgte, die draußen durch die Scheibe guckte. Maik wiederum befand sich ca. 30 m entfernt. Jana murmelte über ihr Headset: „Sie kauft nur ein Hertha-Feuerzeug.“
Nach dem Verlassen des Ladens bewegte sich Miss Diamant in Richtung Wittenbergplatz. Wollte sie dort etwa die U-Bahn nehmen? Nein, stattdessen ging sie kurz vor Ladenschluss hinüber zum KaDeWe. Maik trug jetzt keine Kopfbedeckung mehr, sondern eine schwarz-umrandete Brille. Er folgte Miss Diamant in Richtung Eingang, betrat aber das Kaufhaus nicht selbst, sondern überließ Ulli und Mia die Observierung.
Nachdem sie eine Mütze gekauft hatte, verließ die junge Frau das KaDeWe wieder und schlenderte die Passauer Straße hinunter, bis sie die Augsburger erreicht hatte. Von der bog sie aber bald wieder ab, in eine Straße, wo ein Hotel lag. Dessen Halle betretend ging sie wie selbstverständlich zu einem Fahrstuhl, beschattet von Ulli, die sich zuvor zur Tarnung eine graue Mütze und eine getönte Brille aufgesetzt hatte. Drei alte Damen hatten ebenfalls den Lift bestiegen, sodass Ulli nicht allein mit Miss Diamant war … Man konnte nur mit der Chipkarte nach oben gelangen; Miss Diamant hatte eine, sodass sie alle bis zur 3. Etage fuhren. Nachdem Ulli unauffällig (wie sie hoffte) festgestellt hatte, dass die Eurasierin auf ihr Zimmer gegangen war, rief sie Maik per Handy und ließ sich von ihm ablösen. Bei dieser Gelegenheit ordnete er Funkstille an, um nicht verraten zu werden. Er hatte sich zuvor mit seinem Dienstausweis an der Rezeption zu erkennen gegeben und erfahren, dass Miss Diamant am Vortag mit einem kanadischen Pass eingecheckt hatte, der sie als Ava Fisher auswies.
Eine Viertelstunde später beobachtete Maik, um die Ecke spähend, wie ein Hotelangestellter eine Flasche Sekt und zwei Gläser zu Miss Diamants Zimmer brachte. Wieso zwei Gläser? Erwartete sie jemanden? Oder war da bereits jemand? Vielleicht Schmitt?
Nachdem sich die Tür wieder geschlossen hatte und der Angestellte gegangen war, näherte sich Maik vorsichtig der Zimmertür. Dann geschah zweierlei: Ein junges Paar betrat sich unterhaltend den Gang, und bevor sich Maik zurückziehen konnte, öffnete sich Miss Diamants Tür! Sie trug ein ärmelfreies, schwarzes Minikleid und bis zum Ellenbogen reichende Handschuhe in derselben Farbe. In der Hand hielt sie ein Sektglas. Sie lächelte Maik an und machte eine einladende Geste! Wie magnetisiert folgte er ihr, die Tür schloss sich. Mechanisch nahm er das ihm entgegengehaltene Glas, während sie mit deutlichem Akzent sagte: „Wenn Sie mir die ganze Zeit folgen, können Sie auch etwas mit mir trinken!“ Er nahm das Glas, sie das ihre, beide stießen an. Ihr amüsierter Blick musterte ihn, der das Glas viel zu schnell austrank … Sie näherte sich ihm langsam, beide hatten die Gläser abgestellt. Ihre Lippen öffneten sich, unwillkürlich beugte er sich vor. Da traf ihn ein Schlag der kampfsporterfahrenen Miss Diamant am Hals und es wurde dunkel um ihn!
Maik auffangend – wahrlich eine Leistung mit ihrer schlanken Statur – gelang es der Eurasierin, ihn auf das nahe Bett zu platzieren. Schnell fesselte sie ihn mithilfe seines eigenen Stoffgürtels und einer Kordel. Auf seinen Mund kam ein Pflaster. Dann zog sie sich eine dunkle Hose über, ohne das knappe Kleid auszuziehen zu müssen, eine graue Jacke verbarg den Oberkörper. Daraufhin holte sie aus einer Handtasche eine blonde Perücke sowie eine getönte Brille hervor und tarnte sich mit ihrer Hilfe. Danach griff Miss Diamant sich ihren kleinen Trolley-Koffer, verstaute all ihre Sachen und näherte sich der Tür. Wegen der Fingerabdrücke brauchte sie sich aufgrund der Handschuhe keine Gedanken zu machen … Mit einem kurzen Seitenblick auf den bewusstlosen Maik lauschte sie einen Augenblick, dann betrat sie den Gang, wo sich tatsächlich niemand befand.
Sie fuhr mit dem Fahrstuhl nach unten und betrat das Foyer des Hotels, in dem Mia und Ulli versuchten, möglichst unauffällig zu erscheinen. Auch diese beiden hatten sich mit ihren Dienstausweisen zu erkennen gegeben, um Komplikationen mit den Hotelangestellten aus dem Wege zu gehen.
Miss Diamant kam zugute, dass eine Gruppe von Hotelgästen für Unruhe sorgte, so dass sie beim Verlassen des Hotels weder den Ermittlerinnen noch dem Personal auffiel. Draußen jedoch stand Jana auf der anderen Straßenseite. Zuerst beiläufig, dann immer aufmerksamer schaute sie der Blonden hinterher, die gerade in Richtung Tauentzienstraße ging. Jana machte deren Gang stutzig. Dieselben Bewegungen wie Miss Diamant, dieselben Schuhe mit flachen Absätzen. Jana überlegte einen Moment, ihr schoss das Wort Perücke durch den Kopf, während die blonde Frau schon das andere Ende der Straße erreicht hatte. Keine Zeit, um Mia und Ulli zu rufen! Aber das konnte sie ja bald per Funk nachholen … Kurzentschlossen setzte sich Jana in Bewegung, um der Blondine zu folgen: vom Hotel weg, über die Tauentzienstraße und den Breitscheidplatz, den Zoopalast[3] rechts liegen lassend. Schließlich erreichten die beiden Frauen den Bahnhof Zoo.
Jana hatte mittlerweile festgestellt, dass ihr Akku leer, die anderen nicht erreichbar waren. Egal, vorerst musste die Verfolgung im Vordergrund stehen, auch auf das Risiko hin, dass sie sich irrte!
Die blonde Frau hatte inzwischen den auf Gleis 2 befindlichen Zug nach Frankfurt/Oder bestiegen. Jana fand einen Platz im Abteil zwei Türen weiter, wo sie sich fragte, ob sie sich von jemandem ein Handy leihen sollte, um die anderen anzurufen. Da tauchte eine Horde junger Leute auf, ziemlich laut. Jana war eingekesselt, konnte weder vor noch zurück! Denn im Gang vor ihr und auch in Richtung der anderen Abteile waren jetzt lauter kräftige Männer. Versperrten ihr die Sicht und den Weg; der Zug fuhr los! Es gelang Jana nur noch, einen kurzen Blick auf den Bahnsteig zu erhaschen. Da war eine Frau, blond, mit Brille, Trolley und Handtasche … Jana versuchte vergeblich die Tür zu erreichen. Sie war eingezwängt, kam auch nicht an die Notbremse heran. Der Zug nahm richtig Fahrt auf, es war zum Verzweifeln!
Den leeren Bahnsteig verlassend warf unterdessen eine junge Dame, die dunklen Haare nunmehr unter der Mütze aus dem KaDeWe, eine blonde Perücke in einen Müllbehälter. Dann rückte sie ihre getönte Brille zurecht und warf einen Blick in ihre Handtasche, in der sich unter anderem ihr britischer Pass auf den Namen Yang – Isabel Yang – und ein kleines Päckchen befanden …
Text: Stadtbesucher Jürgen Rösch-Brassovan
Illustration: Geschichtenzeichnerin Celina
[1] teils europäisch, teils asiatisch
[2] Fußballclub
[3] Kino
0 Kommentare
Trackbacks/Pingbacks