Life is strange – die Macht alltäglicher Entscheidungen

von | 18.03.2017 | Digitale Spiele, Entscheidungsbasierte Spiele, Spielstraße

Wir treffen täglich Entscheidungen, manche groß, manche klein. Soll ich ein Foto von diesem Eichhörnchen machen? Möchte ich Musik hören oder lieber nicht? Gieße ich meine Zimmerpflanze? Auch Max Caulfield erlebt viele derartige Momente. Im Indie-Game „Life is strange“ dürfen wir sie dabei begleiten. – Von Erzähldetektivin Annette

Die Vorstellung, der jungen Max durch ihren banalen Alltag zu helfen, mag zunächst nicht besonders spannend klingen. Unsere Zimmerpflanzen können wir schließlich auch im realen Leben gießen. Natürlich sind derartige Alltäglichkeiten nicht die einzige Zutat in „Life is strange“, dem entscheidungsbasierten Mystery-Adventure der französischen Firma Dontnod. Doch ist es diese Trivialität, die das Spiel von anderen Vertretern des populären Genres unterscheidet.

Von kleinen und großen Katastrophen

Gleich zu Beginn des Spiels hat Max eine Vision: Sie sieht, wie ihre Heimatstadt Arcadia Bay von einem Tornado zerstört wird. Da nur sie um das Schicksal des kleinen Küstenstädtchens weiß, kann sie als einzige die drohende Katastrophe abwenden. Im Laufe der Handlung muss Max vielleicht nicht der ganzen Welt helfen, die Rettung ihres kleinen Ostküstenortes hat es jedoch in sich.
Gleichzeitig hat sie noch ganz andere Probleme: Nach fünf Jahren ist die 18-Jährige gerade erst in ihren Heimatort zurückgekehrt, um an der renommierten Blackwell Academy Fotografie zu studieren. Ihre ehemals beste Freundin Chloe sieht sie zum ersten Mal wieder und die neu erblühende Freundschaft steht unter keinem guten Stern. Das Verschwinden von Chloes Freundin Rachel Amber überschattet nicht nur das Leben der rebellischen jungen Frau. In der Blackwell Academy herrschen hingegen Intrigen, Mobbing und Machtkämpfe – wer nicht über das nötige Kleingeld verfügt, scheint kaum eine Chance zu haben. Max selbst ist schüchtern und unsicher und zweifelt nicht selten an ihrem künstlerischen Talent.

Kurzum: Erzählt wird vor allem das Leben eines Teenagers an der Schwelle zum Erwachsenwerden, mit all den Schwierigkeiten, Sorgen und Nöten, die dieser Lebensabschnitt mit sich bringt. Die erste Liebe wird ebenso thematisiert wie nicht erwiderte Gefühle. Psychoterror und Einsamkeit gehen nicht nur in der Blackwell Academy Hand in Hand. Auch andere Einwohner des Küstenstädtchens haben mit schwierigen Lebenssituationen zu kämpfen. Sorgen um die anstehende Prüfung spielen ebenso eine Rolle wie Geldnot aufgrund stagnierender Wirtschaft. Selbst vor Themen wie Vergewaltigung, Umweltverschmutzung, Glaubenskrise, Drogensucht, Depressionen und Suizid schreckt „Life is strange“ nicht zurück.

Entscheidungen und ihre Folgen

Da tritt Maxs Fähigkeit, in der Zeit zurück zu reisen, beinahe in den Hintergrund. Spieler haben alle Hände voll zu tun, das schüchterne Mädchen durch seinen immer skurrileren Alltag zu führen und dabei mehr als einem Bewohner Arcadia Bays unter die Arme zu greifen. Immer wieder müssen Entscheidungen getroffen werden. Anders als bei anderen Vertretern des Genres geschieht dies jedoch nicht unter Zeitdruck. Vielmehr geht es um das sorgfältige Abwägen möglicher Folgen, denn nicht selten haben scheinbar kleine Entscheidungen große Auswirkungen auf die Zukunft. An manchen Stellen nimmt das Dilemma der Entscheidungssituation die Spieler beinahe physisch mit.

Nicht selten ist man sich seiner Sache hundertprozentig sicher, nur um einige Spielstunden später festzustellen, wie immens die Auswirkungen tatsächlich sind. Dann ist es jedoch zu spät und eine Änderung nicht mehr möglich. Denn Max kann immer nur bis zur letzten Schlüsselszene zurückreisen, dann verlassen sie ihre Kräfte und sie muss sich erst regenerieren. An dieser Stelle sei erwähnt, dass „Life is strange“ aus fünf Episoden besteht, die jeweils einen Tag der Woche abdecken. Auf diese Weise wird dem Spieler eine immense Verantwortung aufgetragen, möglichst alle Folgen abzuwägen, bevor er sich für eine Handlungsoption entscheidet. Mit dieser Einschränkung gelingt es den Spielemachern geschickt, völlige Beliebigkeit zu verhindern und stattdessen die Spannung aufrecht zu erhalten. Nicht zuletzt erinnert „Life is strange“ damit auch an Filme wie „Butterfly Effect“, die philosophische Überlegungen bezüglich Zeit, ihrer Vergänglichkeit und ihres Zusammenhangs anstellen.

Gerade vor diesem Hintergrund fällt negativ auf, wenn sich die Handlungsfreiheit des Spielers doch nur als Schein entpuppt. Mehrmals kann eine Spielsituation erst dann verlassen werden, wenn die – aus Sicht der Entwickler – „richtige“ Entscheidung getroffen worden ist. An einigen Stellen mag das Gefühl aufkommen, wichtige Handlungsoptionen stünden gar nicht erst zur Verfügung. Letztendlich ist die Geschichte als Gesamtkonzept durchgeplant, in das bestimmte Handlungsoptionen einfach nicht reinpassen. Dennoch ist positiv zu bewerten, dass sie in aller Regel als Möglichkeiten nicht von vornherein ausgeschlossen werden.

Frischer Wind im Videospiel-Genre

„Life is strange“ hat seinen Spielern einiges zu bieten. Die sich langsam entfaltende Erzählweise erinnert an „Heavy Rain“ und entwickelt einen ähnlich starken Sog. Die Coming-of-age-Thematik ist zumindest im Videospiel-Genre erfrischend und bietet ihrem Publikum eine größere Identifikationsfläche als es normalerweise üblich ist. Die liebevoll inszenierte Welt, der ruhige, aber passende Indie-Soundtrack, die vielen popkulturellen Anspielungen und die Charaktere, die nach und nach immer mehr Facetten offenbaren, machen „Life ist strange“ zu einem Spielvergnügen, dessen philosophische Überlegungen noch lange nachhallen werden. Bei einem einmaligen Durchspielen wird es wohl selten bleiben.

Life is strange. Entwickler: DONTNOD Entertainment. Publisher: Square Enix. 2015. Plattform: PC, PS3, PS4, Xbox 360, Xbox One. Genre: Mystery-Adventure. Anzahl Spieler: Singleplayer. Spielzeit: ca. 2 Stunden/Episode, fünf Episoden. Altersfreigabe: 12.

Ein Beitrag in der Reihe um entscheidungsbasierte Spiele.

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