Leben kartografieren

by Worteweberin Annika

In Salis­bury in Eng­land flie­ßen die Flüsse Wylye, Ebble, Nad­der und Bourne zusam­men in den Avon. Und wie diese Flüsse kreuzt sich hier das Schick­sal von fünf Men­schen, die alle in Zusam­men­hang mit einem Unfall ste­hen. Worte­we­be­rin Annika hat Bar­ney Nor­ris fabel­haf­ten Roman „Hier tref­fen sich fünf Flüsse“ gelesen.

Ein Unfall

Nach­ein­an­der erzäh­len die fünf Men­schen, die der Unfall in Salis­bury zusam­men­bringt, einen Aus­schnitt ihrer Geschichte. Im ers­ten Teil geht es um Rita, eine Blu­men­händ­le­rin, die neben­bei die Klein­städ­ter mit Dro­gen ver­sorgt. So rich­tig hat sie ihr Leben eigent­lich nie auf die Reihe bekom­men, wes­we­gen sich ihre Fami­lie von ihr distan­ziert hat. Als sie end­lich plant, ihre Zukunft in die Hand zu neh­men, schwingt sie sich auf ihr Motor­rad und kol­li­diert mit einem Auto. Sam, ein Sech­zehn­jäh­ri­ger, beob­ach­tet den Unfall. Er hat gerade die erste große Liebe ent­deckt, als sein Vater schwer an Krebs erkrankt. Zwi­schen Kran­ken­haus­be­su­chen und roman­ti­schen Aus­flü­gen mit dem Mäd­chen sei­ner Träume ist er hin und her gerissen.

Sam ist der Erzäh­ler im zwei­ten Teil des Romans. Seine berüh­rende Geschichte bil­det das Herz­stück, das ins­be­son­dere mit sei­nen lebens­klu­gen Refle­xio­nen über das Erwach­sen­wer­den über­zeugt. Dann ist da George, des­sen Frau gerade gestor­ben ist, als er mit dem Auto plötz­lich in ein Motor­rad rauscht. Beim Poli­zei­ver­hör fühlt George sich schul­dig, doch eigent­lich über­wiegt für ihn der Schmerz über den Ver­lust der Ehe­frau: „Etwas, wozu einen der Tod zwingt, ist, dar­über nach­zu­den­ken, wie viele unter­schied­li­che Arten von Liebe es auf der Welt eigent­lich gibt.“ (S.155)

Ein­sam­keit und der Gesang der Stadt

Auch Alsion beob­ach­tet den Unfall. Sie lebt allein in Salis­bury, ihr Sohn geht aufs Inter­nat, ihr Mann ist im Mili­tär­dienst. Sie war­tet alleine zu Hause. Dar­auf, dass etwas pas­siert, denn ihren Traum von der Schau­spie­le­rei konnte sie sich nie erfül­len. Ist sie ein­sam? Ver­mut­lich ja, denn all ihre Gedan­ken kann sie nur einem Tage­buch anver­trauen. Und doch ist sie sich, wie alle Figu­ren in „Hier tref­fen sich fünf Flüsse“, sicher, wie wich­tig andere Men­schen für das Glück sind: „Die Welt sind andere Men­schen, nicht die Orte, an denen man zu Besuch ist.“ (S. 296)

Und auch Liam sieht das so. Er beob­ach­tet vom Fens­ter aus, wie sich bei dem Unfall alle vier, mit ihm ein­ge­schlos­sen alle fünf, Schick­sale kreu­zen. Nach einer Tren­nung ist er in seine Geburts­stadt zurück­kehrt und ver­sucht nun Fuß zu fas­sen. Von der Burg Old Sarum, auf der er als Nacht­wäch­ter arbei­tet, beob­ach­tet er, auch nach dem Unfall, die Stadt: „Geschich­ten ver­we­ben sich. Lebens­wege kreu­zen ein­an­der. Und geht man die­sen Mus­tern von hier oben aus nach, lernt man auch den tönen­den Äther, den sie durch­zie­hen, all­mäh­lich bes­ser ken­nen.“ (S. 293) Liam lauscht auf die Gesänge der Stadt, in ihm bün­deln sich die vier ande­ren Geschich­ten, wie die vier Flüsse im Avon zusammenlaufen.

Das Leben mal fünf

Was Liam über die Stadt und das Kar­tie­ren von Leben denkt, gelingt Bar­ney Nor­ris in „Hier tref­fen sich fünf Flüsse“ tat­säch­lich: „Würde man die Ver­läufe der Flüsse und ihrer Gesänge nach­zeich­nen, hätte man die gesamte Stadt kar­tiert.“ (S. 294) Fünf ganz nor­male Leben sind es, unge­schönt, von Pro­ble­men wie Ein­sam­keit und Trauer, aber auch vom Glück und von der Liebe geprägt, die Nor­ris kar­to­gra­fiert und damit so viel mehr zum Aus­druck bringt.

Ritas, Sams, Geor­ges, Ali­sons und Liams Leben zeich­nen nicht nur ein Bild der Stadt Salis­bury, son­dern zei­gen eine Per­spek­tive auf das Leben. Nor­ris setzt das mensch­lich, aber auch sehr weise um. Wäh­rend alle fünf Figu­ren in sich und ihr Leben hin­ein­hor­chen, hören wir zu und kön­nen dabei eine Menge über uns und das Leben ler­nen. Das Ende des Romans bil­det ein Plä­doyer für den Augen­blick: „Denn die Welt um uns herum endet mit jedem Moment, den wir leben. Jeder Takt in der Par­ti­tur unser selbst, ver­schwin­det bereits im Gedächt­nis, in die Vor­stel­lung, genau in dem Augen­blick, wo wir ihn spie­len. Wir könn­ten also genauso gut ein­fach mal hin­hö­ren.“ (S. 317) Eine aus­ge­zeich­nete Gele­gen­heit dazu bie­tet „Hier tref­fen sich fünf Flüsse“ von Bar­ney Norris.

Hier tref­fen sich fünf Flüsse. Bar­ney Nor­ris. Aus dem Eng­li­schen von Johann Chris­toph Maass. Dumont. 2017.

Weiterlesen

Leave a Comment

Diese Seite verwendet Cookies. Mit der Nutzung unserer Website erklärst du dich damit einverstanden, dass wir Cookies verwenden. OK Erfahre mehr