Leben kartografieren

von | 11.08.2017 | Belletristik, Buchpranger

In Salisbury in England fließen die Flüsse Wylye, Ebble, Nadder und Bourne zusammen in den Avon. Und wie diese Flüsse kreuzt sich hier das Schicksal von fünf Menschen, die alle in Zusammenhang mit einem Unfall stehen. Worteweberin Annika hat Barney Norris fabelhaften Roman „Hier treffen sich fünf Flüsse“ gelesen.

Ein Unfall

Nacheinander erzählen die fünf Menschen, die der Unfall in Salisbury zusammenbringt, einen Ausschnitt ihrer Geschichte. Im ersten Teil geht es um Rita, eine Blumenhändlerin, die nebenbei die Kleinstädter mit Drogen versorgt. So richtig hat sie ihr Leben eigentlich nie auf die Reihe bekommen, weswegen sich ihre Familie von ihr distanziert hat. Als sie endlich plant, ihre Zukunft in die Hand zu nehmen, schwingt sie sich auf ihr Motorrad und kollidiert mit einem Auto. Sam, ein Sechzehnjähriger, beobachtet den Unfall. Er hat gerade die erste große Liebe entdeckt, als sein Vater schwer an Krebs erkrankt. Zwischen Krankenhausbesuchen und romantischen Ausflügen mit dem Mädchen seiner Träume ist er hin und her gerissen.

Sam ist der Erzähler im zweiten Teil des Romans. Seine berührende Geschichte bildet das Herzstück, das insbesondere mit seinen lebensklugen Reflexionen über das Erwachsenwerden überzeugt. Dann ist da George, dessen Frau gerade gestorben ist, als er mit dem Auto plötzlich in ein Motorrad rauscht. Beim Polizeiverhör fühlt George sich schuldig, doch eigentlich überwiegt für ihn der Schmerz über den Verlust der Ehefrau: „Etwas, wozu einen der Tod zwingt, ist, darüber nachzudenken, wie viele unterschiedliche Arten von Liebe es auf der Welt eigentlich gibt.“ (S.155)

Einsamkeit und der Gesang der Stadt

Auch Alsion beobachtet den Unfall. Sie lebt allein in Salisbury, ihr Sohn geht aufs Internat, ihr Mann ist im Militärdienst. Sie wartet alleine zu Hause. Darauf, dass etwas passiert, denn ihren Traum von der Schauspielerei konnte sie sich nie erfüllen. Ist sie einsam? Vermutlich ja, denn all ihre Gedanken kann sie nur einem Tagebuch anvertrauen. Und doch ist sie sich, wie alle Figuren in „Hier treffen sich fünf Flüsse“, sicher, wie wichtig andere Menschen für das Glück sind: „Die Welt sind andere Menschen, nicht die Orte, an denen man zu Besuch ist.“ (S. 296)

Und auch Liam sieht das so. Er beobachtet vom Fenster aus, wie sich bei dem Unfall alle vier, mit ihm eingeschlossen alle fünf, Schicksale kreuzen. Nach einer Trennung ist er in seine Geburtsstadt zurückkehrt und versucht nun Fuß zu fassen. Von der Burg Old Sarum, auf der er als Nachtwächter arbeitet, beobachtet er, auch nach dem Unfall, die Stadt: „Geschichten verweben sich. Lebenswege kreuzen einander. Und geht man diesen Mustern von hier oben aus nach, lernt man auch den tönenden Äther, den sie durchziehen, allmählich besser kennen.“ (S. 293) Liam lauscht auf die Gesänge der Stadt, in ihm bündeln sich die vier anderen Geschichten, wie die vier Flüsse im Avon zusammenlaufen.

Das Leben mal fünf

Was Liam über die Stadt und das Kartieren von Leben denkt, gelingt Barney Norris in „Hier treffen sich fünf Flüsse“ tatsächlich: „Würde man die Verläufe der Flüsse und ihrer Gesänge nachzeichnen, hätte man die gesamte Stadt kartiert.“ (S. 294) Fünf ganz normale Leben sind es, ungeschönt, von Problemen wie Einsamkeit und Trauer, aber auch vom Glück und von der Liebe geprägt, die Norris kartografiert und damit so viel mehr zum Ausdruck bringt.

Ritas, Sams, Georges, Alisons und Liams Leben zeichnen nicht nur ein Bild der Stadt Salisbury, sondern zeigen eine Perspektive auf das Leben. Norris setzt das menschlich, aber auch sehr weise um. Während alle fünf Figuren in sich und ihr Leben hineinhorchen, hören wir zu und können dabei eine Menge über uns und das Leben lernen. Das Ende des Romans bildet ein Plädoyer für den Augenblick: „Denn die Welt um uns herum endet mit jedem Moment, den wir leben. Jeder Takt in der Partitur unser selbst, verschwindet bereits im Gedächtnis, in die Vorstellung, genau in dem Augenblick, wo wir ihn spielen. Wir könnten also genauso gut einfach mal hinhören.“ (S. 317) Eine ausgezeichnete Gelegenheit dazu bietet „Hier treffen sich fünf Flüsse“ von Barney Norris.

Hier treffen sich fünf Flüsse. Barney Norris. Aus dem Englischen von Johann Christoph Maass. Dumont. 2017.

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