Kleine Mädchen sind nicht niedlich

von | 25.05.2017 | Belletristik, Buchpranger

Auch wenn Margaret Atwoods „Katzenauge“ fast 30 Jahre alt ist, macht es eine zeitlose Aussage zur komplexen Natur von Freundschaften, findet Buchstaplerin Maike. Die Vergangenheit, die Atwood beschreibt, kommt dabei ganz ohne Nostalgie und rosarote Brille aus.

Kanada in den 1980ern: Malerin Elaine bereitet sich gerade auf die erste Retrospektive ihres Schaffens vor. Sie merkt, wie sehr sich ihre Heimatstadt und auch sie selbst verändert haben. Sie blickt zurück in ihre Kindheit in den 40ern und das Erwachsenwerden in den 50ern – eine Zeit, die von einer grausamen Mädchenfreundschaft beherrscht wurde, die Elaine bis heute nicht loslässt.

Eine doppelte Retrospektive

Elaines Leben wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Ausgangspunkt der Ich-Erzählerin ist die Vorbereitung auf die Rückschau auf ihr künstlerisches Schaffen. Wohl ist Elaine dabei nicht, zu groß ist die Gefahr, missverstanden zu werden. Doch auch die eigene Rückschau auf ihr Leben lässt sie nicht zur Ruhe kommen.

Chronologisch von den 40er Jahren an verweben sich episodenhaft die verstörenden Stationen ihrer Kindheit mit den Geschehnissen der Gegenwart. Verzerrt und symbolhaft aufgeladen finden die Erfahrungen und Ängste der jungen Elaine ihren Weg in die Gemälde: Da ist das Herumreisen mit Eltern und Bruder während des Krieges. Da sind die ersten Freundschaften mit gleichaltrigen Mädchen, die grausamen Spiele, um dazuzugehören. Immer wieder nimmt Cordelia einen großen Raum in Elaines Gedanken ein: die verwöhnte, launische Freundin, die ebenso willkürlich bestraft, wie sie sich zuckersüß einschmeicheln kann. Doch die Freundschaft ist zu komplex, um sich davon abzuwenden. Sie ist für Elaine genauso wertvoll wie erschreckend: „Hass wäre einfacher gewesen. Bei Hass hätte ich gewusst, was ich tun muss. Hass ist klar, metallisch, einhändig, unerschütterlich; nicht wie Liebe.“

Atwood lässt Elaine und Cordelias komplizierte Beziehung mühelos zeitlos wirken. Trotz des historischen Kontextes scheinen die Machtkämpfe unter befreundeten Mädchen und die Stationen des Erwachsenwerdens heute ebenso gültig zu sein. So zeigt sich, wie prägend Kindheit und Jugend – auch wider Willen – für das ganze restliche Leben sind.

„Kleine Mädchen sind nur für Erwachsene niedlich. Füreinander sind sie nicht niedlich. Sie sind lebensgroß.“

„Katzenauge“ bündelt die Komplexität eines ganzen Lebens. Atwood verklärt Kindheit und Jugend, Freundschaften und Beziehungen nicht, sondern lässt Verstörendes und scheinbar Widersprüchliches an die Oberfläche treten. Elaines Kunst ist dafür die perfekte Projektionsfläche: Nur, weil ihre Gemälde zweidimensional sind, heißt das nicht, dass sie nicht vielschichtig und mehrdeutig sind.

Katzenauge. Margaret Atwood. Aus dem kanadischen Englisch von Charlotte Frank. Piper. 2017.

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