Haben Märchen subversives Potential, oder werden in ihnen bestehende Geschlechterrollen zementiert?

von | 11.08.2018 | #Kunterbunt, Kreativlabor, Specials

Stadtbesucherin Sarah L. R. Schneiter von Clue Writing denkt auf Papier über Märchen und die Geschlechterrollen darin nach und überlegt, wie anders Kinder und Erwachsene Märchen wahrnehmen (können).

Wir alle kennen die Geschichten vom heldenhaften Prinzen, der die eingesperrte oder schlafende Prinzessin rettet, von der bösen Hexe, von dem naiven Rotkäppchen, das einem bösen Wolf auf den Leim geht und natürlich von den heldenhaften Rittern, die unerschrocken gegen riesige, feuerspeiende Drachen kämpfen und dabei nur allzu oft umkommen. Doch was erzählen uns diese meist Jahrhunderte alten, häufig im Laufe der Zeit stark veränderten Texte über unsere Gesellschaft? Märchen und Fabeln, wie sie von den Gebrüdern Grimm oder von Jean-Jacques Perreault niedergeschrieben worden sind, wurden nicht von diesen bekannten Persönlichkeiten erfunden, sondern sind in den meisten Fällen alte Volksgeschichten und -legenden, die von den Autoren gesammelt und häufig umgedichtet worden sind. Dementsprechend gibt es auch verschiedene Varianten davon; so wird zum Beispiel Rotkäppchen bei Perreault, der noch näher an den meist viel brutaleren Originalgeschichten liegt, vom Wolf aufgefressen und danach nicht gerettet.

Geschlechterrollen – märchenhaft!

Doch was hat das alles mit Geschlecht zu tun? Ganz einfach: Wie jedes Erzeugnis einer bestimmten Epoche spiegeln Märchen auch die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit wider und da sie einer ständigen Veränderung unterliegen, können sich ihre Aussagen ebenfalls wandeln. Man denke bloß an Zeichentrick- und Animationsfilme, von den alten Disney-Streifen bis hin zur modernen Parodie „Shrek“, in welcher die Prinzessin Kampfsport beherrscht und der Held alles andere als ritterlich ist. Aber Märchen zeigen uns nicht nur, wie die Gesellschaft etwas (in unserem Fall Geschlechterrollen) zu einer bestimmten Zeit sah oder sieht, sondern helfen wie alle populärkulturellen Produkte gleichzeitig auch dabei, unser Verständnis von Geschlecht zu formen, uns zu bestätigen oder zu Zweifeln zu veranlassen.

Ohne Märchen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, gäbe es wohl keine Mädchen, die Prinzessinnen sein wollten und keine Jungen, die als tapfere Ritter gegen den bösen Drachen antreten. Bei den Grimm-Märchen, die im deutschen Sprachraum sehr bekannt sind, erkennen wir sehr rasch, dass die Geschlechterrollen der Protagonisten sehr stereotyp verteilt sind, entsprechend der Zeit, aus der sie stammen. Die Prinzessin ist schön und braucht die Hilfe des Prinzen, die unabhängige Frau ist eine böse Hexe und die Männer müssen kämpfen sowie in der Schlacht fallen, was ebenso wenig Aussichten auf eine gute Karriere sind. Es gibt aber einzelne Elemente, in denen die Rollen von aktiven und passiven Charakteren vertauscht sind, beispielsweise wenn die Prinzessin einen Frosch küssen muss, damit er sich in einen Prinzen verwandelt. Aber auch da zieht sie nicht mit der Waffe in der Hand in den Kampf, sondern muss etwas tun, das ihrer angestammten Geschlechterrolle entspricht.

Märchenhafte Vorbilder?

Machen also Märchen unsere Kinder glauben, dass sie genauso sein müssen wie die Prinzessin oder der edle Ritter? Wenn wir auf unserem nächsten Stadtspaziergang einen Abstecher in einen großen Spielwarenladen machen und uns dort etwas umsehen, werden wir feststellen, dass dem zumindest in der Vermarktung noch häufig so ist. Für die Mädchen gibt es Unmengen an Prinzessinnen-Kleidchen, Diademe und Glasperlen, für die Jungs Plastikschwerter und Helme. Aber das ist nicht die ganze Geschichte, denn auch wenn alles danach aussieht, als ob sich wenig verändert hat, so sehen wir heutzutage doch, dass es zumindest für die Mädchen in einem gewissen Rahmen möglich ist, auf ein größeres soziales Spektrum an Rollenbildern zurückzugreifen.

Märchen subversiv!

Können Märchen auch subversives Potential haben, können sie alte Geschlechterbilder untergraben und in Frage stellen? Um dies zu beantworten, müssen wir erst einmal zwischen Kindern und Erwachsenen unterscheiden, die Geschichten auf verschiedene Arten verstehen und interpretieren. Ein gutes Beispiel dafür sind die eingangs erwähnten „Shrek“-Filme, die auf dem großen Fundus aus Märchen aufbauen, der im kollektiven Gedächtnis der westlichen Gesellschaft gut verankert ist und so jederzeit zitiert werden kann, ohne dass dabei viele Erklärungen vonnöten sind. Während Erwachsene diese Geschichte mit ihren (Kindheits-)Erinnerungen an Märchen als postmoderne Parodie verstehen, die mit unseren Erwartungen spielt und sie auf die Schippe nimmt, werden Kinder, die noch kaum Märchen kennen, das Ganze als eine unterhaltsame Geschichte sehen, nichts mehr und nichts weniger. Doch auch hier, bei den modernen Variationen von Märchen, ist die Prinzessin immer noch die junge Frau, die vom Ritter gerettet werden muss oder will, auch wenn sie vielleicht die eine oder andere Kampfsportart beherrschen mag.

Moralische Märchen

Normalerweise haben Märchen auch eine Moral, eine prägnante Aussage am Ende, die sie zu einer Art Lehrstück macht, das den Kindern etwas beibringen soll – sei es nun, dass verkleidete Wölfe keine Großmütter sind oder dass am Ende das Gute immer gewinnt, weil ein gläserner Schuh an den Fuß passt. Die Lehren, die aus den alten Geschichten gezogen werden können, sind aber in den meisten Fällen nicht besonders subversiv, sondern sehr einfach und manchmal auch alles andere als zeitgemäß.

Darum wollen wir uns die Möglichkeiten ansehen, welche uns die alten Märchenstoffe bieten, um sie so umzudeuten, dass eine andere Geschichte erzählt werden kann, eine Geschichte, die modernere Werte vermittelt. Vielleicht vermag uns ein verändertes Märchen als Lesende so zu verwirren, dass wir am Ende von selbst dazu kommen, uns die Frage zu stellen, welche Werte uns die ursprüngliche Geschichte eigentlich vermittelt hat. Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie alte Fabeln und Parabeln zu zeitgenössischen Märchen umgedeutet werden können.

Moderne Märchen

Ein einfaches Mittel, das uns bei der Lektüre garantiert dazu bringt, Vergleiche mit unserem heutigen Leben und Erleben zu ziehen, ist, die Handlung eines Märchens in unserer Zeit anzusiedeln. So können Werte leicht bewusst gemacht werden und man kommt rasch dazu, sich zu fragen, ob denn nun unser heutiges Leben noch immer von den dargestellten (geschlechter-)stereotypen Verhaltensweisen geprägt ist. Früher war Aschenputtel die Unscheinbare, heute würde man sie als „Nerd“ bezeichnen. Nach diesem Muster kann man fortfahren und es auf alle Elemente einer Erzählung anwenden, ganz wie es beliebt und nach eben diesem Muster funktionieren sehr viele Parodien. Wie bereits erwähnt benötigt ein Märchen aber auch eine Moral, einen prägnanten Schlusssatz, der die Hauptaussage der Geschichte auf einen Nenner bringt.

Und wird jetzt Aschenputtel oder auch Schneewittchen modern, so kann sie sich durchaus auch dafür entscheiden, dass sie keine Prinzessin sein will und dazu keine schönen Schuhe oder einen Prinzen braucht, dafür aber eine gute Freundin findet und an einer angesehenen Universität studiert. Veränderte Umstände führen zu einem anderen Schluss und obwohl zu Beginn noch alle Anspielungen klar ersichtlich waren, endet die Geschichte nicht so, wie wir es erwarten würden. Ein solcher Bruch mit Erwartungen wirft die Frage auf, wieso sich das Ende vom Original unterscheidet, wieso sich die Protagonistin so entschieden hat und nicht anders. Es ist offensichtlich, dass sie andere Werte hat und andere Ziele verfolgt, sie will sich ihren Respekt selbst verdienen. Mit diesen Mitteln lässt sich sehr rasch ein Märchen so umschreiben, dass es zeitgemäß ist und, je nach Wunsch direkt oder auf subtile Weise, andere Rollenbilder vermittelt und gleichzeitig veraltete Ideale in Frage stellt.

Märchen – manchmal auch nur eine Geschichte

Klassische Märchen an sich sind also in den wenigsten Fällen subversiv. Natürlich gibt es die eine oder andere Ausnahme, wo es Außenseitern gelingt, es weit zu bringen, doch trotzdem müssen sie sich dazu in bestehende Strukturen eingliedern. Dennoch lassen sich solche der breiten Gesellschaft bekannten Geschichten gut dazu nutzen, uns durch Umschreiben oder mit einigen einfachen Vergleichen Dinge bewusst zu machen und in Erinnerung zu rufen. Und zu guter Letzt gibt es eine noch einfachere Lösung, wenn wir uns ein Märchen mit dem subversiven Potential wünschen, Geschlechterrollen in Frage zu stellen: Wir setzen uns hin und schreiben selbst eine von Grund auf neue Story. Wir sollten aber die alten Märchen deshalb nicht gleich verteufeln und aus dem Bücherregal entfernen, sondern als Produkte ihrer Zeit verstehen – denn manchmal soll eine Geschichte auch einfach nur eine Geschichte sein dürfen.

Die Ursprungsfassung dieses Textes erschien 2013 im Programmheft zum Ballett „Snow White“ des Theaters Basel.

Autorin:
Sarah ist Co-Herausgeberin der Literaturplattform Clue Writing sowie des dazugehörigen Kurzgeschichten-Podcasts und Autorin der Science-Fiction-Reihe „Promise“. Zudem ist sie als Sach-/Fachbloggerin im Bereich IT und Technik tätig und produziert als Hobby Let’s-Play-Videos.

 

Ein Beitrag zum Special #Kunterbunt. Hier findet ihr alle Beiträge.
Illustration: Federschreiberin Kristina
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