Gewitterwolken

von | 18.02.2015 | Kreativlabor

»War dort ein Geräusch? Wenn ein Blitz einschlägt, sieht man zuerst das Licht, der Donner ist erst wenige Sekunden später zu hören. Oder war es anders herum?« Der alte Herr lag wach in einem Bett. Ein Geräusch, dem eines Donners ähnlich, hatte ihn geweckt. Er horchte, aber das Geräusch wollte sich nicht wiederholen.

»Nein, ganz sicher, zuerst kommt das Licht, dann der Donner! Licht ist nunmal schneller! Oder war es doch andersherum?« Der alte Herr richtete sich auf. Das Gefühl husten zu müssen überkam ihn. »Nein, zuerst hört man es donnern, dann wird gezählt bis man das Licht sieht! So war es, nicht andersherum!« Der alte Herr hustete. Es war ein kraftloses husten, kaum hörbar, aber dennoch schmerzte ihm die Brust.
»Nein, so war es doch nicht. Zuerst sieht man das Licht, dann folgt der Donner. Eine Zigarette würde beim Nachdenken helfen.« Auf dem Nachttisch lag ein Päckchen, halbleer, daneben eine Schachtel Zündhölzer. Der alte Herr griff nach den Zigaretten. »Darf man hier rauchen? Zuerst war doch der Donner da, oder war es doch andersherum? Die Eiche war ganz abgebrannt, Vater war damals sehr traurig.«

In der Schachtel waren noch zwei Zigaretten. Der alte Herr nahm eine Zigarette heraus und tastete mit der anderen Hand nach den Zündhölzern. Sein Griff war schwach, aber die Zündhölzer blieben in seiner Hand. »Nein, nein, nein! Zuerst kam der Blitz und dann der Donner! Das Licht ist schneller als der Schall, Empedokles war es. Ja genau, Empedokles hatte das herausgefunden. Aber hier darf man nicht rauchen.«
Der alte Herr stand auf. Seine Haltung war kümmerlich, seine Hände zitterten. »Empedokles war der Lehrer von Alexander dem Großen. Die alten Griechen wussten viel, Empedokles hat auch die Krümmung der Welt berechnet.« Langsam schritt der alte Herr auf die Tür zu. Durch das Schlüsselloch schien gelbliches Licht. Der alte Herr legte seine Hand auf die Klinke.

»Nein, Aristoteles war der Lehrer von Alexander dem Großen, Empedokles hat nur die Lichtgeschwindigkeit entdeckt. Mit der Erdkrümmung hatte keiner was zu tun.« Der alte Herr öffnete die Tür und betrat einen langen Flur. Ein merkwürdiger Geruch von Zitronen lag in der Luft und ein leises Flüstern war zu hören.
»Der Balkon war links, rechts geht es zu den Toiletten. Früher hatten wir keinen Balkon, Vater hat immer in der Stube geraucht. Mutter hat dann immer die Fenster aufgemacht, auch im Winter. Doch, Empedokles hat die Krümmung der Erde errechnet, Aristoteles hat ihm dabei geholfen.« Der alte Herr schaute auf und blickte auf eine große Fensterscheibe. Sein Spiegelbild schaute ihn an und der alte Herr betrachtete es nachdenklich.

»Spiegelbilder, an denen hat Aristoteles geforscht.«
Das Flüstern im Raum wurde immer lauter, ohne dass es dem alten Herrn auffiel.
»Ja genau, Spiegelbilder und Schall, die hat Aristoteles erforscht.«
Der alte Herr tastete nach dem Fenster, aber seine Hand fand keinen Griff.
»Bei den Spiegelbildern hat ihm Pythagoras geholfen, weil der hatte vorher schon an der Spiegelung geforscht.«
Der alte Herr stand vor der Fensterscheibe, die Hand nach einem Fenstergriff ausgestreckt. Die Zigarette und die Zündhölzer lagen vor seinen Füßen und das Geflüster im Raum war zu einem deutlichen Gespräch geworden.
Der alte Herr ließ seinen Arm niedersinken, er hatte keine Lust mehr zu rauchen.

»Zuerst sieht man das Licht, dann kommt der Donner! Ja genau, so ist es!«

Lukas Franke
Foto: Alexa
Ein Beitrag zum Schreib-Projekt „100 Bilder – 100 Geschichten„.

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