Erinnerungen … an Weihnachten 1944

von | 24.12.2019 | #litadvent, Kreativlabor, Specials

Jetzt ist er da, der Heilige Abend. Doch bis zum Abend ist es noch eine lange Zeit. Es ist früher Morgen und die Stunden des Tages werden sich wieder ziehen wie Gummi. Eine endlose Zeit, bis das Christkind kommt. An anderen Tagen vergeht die Zeit viel schneller.

Ich denke, ich tue das, was ich jeden Tag tue. So stapfe ich durch den Schnee mit meinem schweren Eimer voller Körner und füttere erst einmal die Gänse und dann die Hühner. Auf dem Rückweg nehme ich dann die Eier mit ins Haus. Ich muss mich aufwärmen und gehe deshalb in die Knechtsstube. Dort ist es schön warm.

Die große Tür zur Küche steht offen und dort bullert der große Herd. Mich beobachtet niemand. Alle haben zu tun. „Dorli, wenn du Frühstück willst, komm in die Küche. Wir haben viel Arbeit. Heute Mittag gibt es Apfelstrudel, wie jedes Weihnachten.“

Nun kommen aus der Nachbarschaft Frauen zum Helfen. Sie alle sitzen auf den Bänken rund um das Zimmer und jede hat ein Messerchen mitgebracht. Die Körbe mit den Äpfeln werden hereingebracht und schon geht das Geschnippel los. Die Bäurin und meine Mutter kneten inzwischen den Strudelteig. „Dorli, geh‘ in die Küche und pass auf, dass die Butter nicht zu braun wird. Und wasch die Rosinen.“ Das wird sicherlich ein schöner Tag, ich esse gerne Apfelstrudel.

Die Bäurin und meine Mutter rollen jetzt den Teig aus und beginnen an ihm zu ziehen und zu zerren, bis der Teig hauchdünn ist und wie eine Tischdecke von dem großen Tisch in der Knechtstube herunterhängt. Ich freue mich auf das Mittagessen. Die Nachbarinnen schnippeln weiter ihre Äpfel und singen Weihnachtslieder. Mir wird dabei ganz fromm zu Mute. Der große Backofen ist schon vor einer Stunde angeheizt worden, die Butter ist genug geläutert und die Rosinen sind trocken.

Jetzt wird es still im Zimmer, denn das Geheimnis eines guten Apfelstrudels ist die richtige Reihenfolge der Zutaten. Die Zwillingsbuben der Magd gehen mit zwei großen Krügen in den Keller, um den Birnschnaps zu holen. Alle Helferinnen testen nun den Schnaps, ob es auch wirklich der Richtige ist. Nach dem zweiten Gläschen nicken sie einstimmig mit ihren Köpfen und nun können die Semmelbrösel und die Butter den Anfang machen. Zimt und Zucker noch dabei und dann die Berge von geschnippelten Äpfeln. Halt, der Birnschnaps!

Und dann sind die Expertinnen am Zuge. Der Strudel muss gerollt werden, ohne dass der Teig reißt. Da gucke ich gern zu. „Dorli, sag‘ Bescheid, wenn du irgendwo eine Lücke siehst. Hol noch mal die Butter!“ Die großen Bleche liegen schon bereit. Der Stress beginnt. Meine Mutter schwitzt unter der Anstrengung. Eine Rolle ist schwer und Mutter ruft: „Schneiden!“ Schon stürzen zwei Helferinnen herbei und scheiden die Rolle ab. Die Enden werden verschlossen und ab auf das Blech. Nun kommt die Rolle zwei, dann drei und vier. Alle werden in den Backofen geschossen.

Die Tür geht zu und nun warten wir auf den herrlichen Duft vom Apfelstrudel. Küche und Knechtsstube sind jetzt leer und werden für das Essen hergerichtet. „Dorli, gehe zum Schuster und zum Bienenmann und lade sie zum Essen ein! Beeile dich, bald ist Heilig Abend! Und wenn du das Christkind siehst, lade es auch ein – wir haben genug Apfelstrudel für alle!“

Frohe Weihnachten!

Text: Dorothea Ender
Illustration: Seitenkünstler Aaron

[tds_note]Ein Beitrag zum Special #litadvent. Hier findet ihr alle Beiträge.[/tds_note]
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