„Er ist gerade in der Pubertät!“

von | 06.08.2018 | #Kunterbunt, Filmtheater, Specials

Wie werden Adoleszenz und Disability im Jugendfilm dargestellt? Und welche Normen vermitteln die dargestellten Szenen? Zeichensetzerin Alexa hat sich näher mit diesem Thema beschäftigt und zwei Buchverfilmungen als Beispiele herangezogen: „Crazy“ von Benjamin Lebert und „Umweg nach Hause“ von Jonathan Evison. Ein Gedankenkrümel.

Bumm, bumm, utz, utz – blinkende Lichter, viel nackte Haut, „Sex, Drugs, Rock’n’Roll“. Nicht selten enthalten Jugendfilme Szenen, in denen Partys dargestellt werden. Man denke da an „American Pie“, „Girls Club – Vorsicht bissig!“, „Einfach zu haben“, „Fack ju Göhte“ oder „Nick und Nora – Soundtrack einer Nacht“. Hier fließt der Alkohol, das jeweils andere Geschlecht ist das Ziel des Abends – alles, was zuvor verboten schien, ist jetzt besonders spannend. Moment. Ist es das? Was vermitteln diese Bilder den Zuschauenden? Inwieweit bilden die dargestellten Szenen die Realität ab? Sind diese Szenen in Filmen integriert, weil sich Jugendliche in der Pubertät grundsätzlich oder zumindest vorwiegend mit solchen Themen beschäftigen oder verhalten sich Jugendliche entsprechend der vermittelten Bilder?

Der „Pubertäts“-Stempel

„Er ist gerade in der Pubertät!“, wird gerne als Begründung für jedes „unangebrachte“ Verhalten verwendet, wenn man sich in einer „pubertären Phase“ befindet. Es reicht nicht, dass sich in dieser Phase der Körper verändert, alles peinlich und seltsam ist – die Gesellschaft (die Eltern, die Lehrer?) drückt einem und einer auch noch einen „Pubertäts“-Stempel auf. Plötzlich wirkt es, als müsse man sich der Lebensphase „entsprechend“ verhalten: Vermittelt der Film, Jugendliche seien nur an Partys und Alkohol interessiert, wird der Anschein erweckt, es gelte für alle. Erzieht diese Art von Jugendfilm die Eltern mit, glauben sie, ihren Kindern stünde eine Phase bevor, die jener in den Medien dargestellten ähnelt.

„Er ist gerade in der Pubertät!“, heißt es dann wieder – und auf einmal ist da dieses Gefühl der Beobachtung: Wie verhalte ich mich, um einen solchen Satz nicht hören zu müssen? Wann ist diese Phase, in der jeder Schritt abgewogen werden muss, endlich vorbei? Warum muss man sich für alles, was man tut, schämen? Weil es erwartet wird? Weil es eben so ist – in der Pubertät?

Themen, Interessen, Prioritäten

Alles ist seltsam. Und alle sind am Rumprobieren und auf der Suche nach sich selbst. Da stellt sich die Frage, ob das Thema Behinderung nicht eine weitere Art von Anderssein darstellt; viel mehr als in anderen Phasen des Lebens. Ein Film, der beide Aspekte – Adoleszenz und Disability – verbindet, ist „Crazy“, nach dem gleichnamigen, autobiografischen Roman von Benjamin Lebert. Geschrieben hat der Autor das Buch im Alter von 16 Jahren. Seine Erfahrungen als Halbseitenspastiker fließen in sein Werk ein, wie jene, die er im Internat gemacht hat.

„Ohne Abitur bist du nichts auf dieser Welt“, sagt sein Vater. Dieses Gefühl – Schule sei das einzig wichtige auf der Welt – vermitteln Benjamins Lehrer, indem sie ihren Schülern mit besonderer Strenge begegnen, aber auch genau das aussprechen. So wisse Benjamin angeblich nicht, was für ihn wirklich „wichtig ist“. (Wohl aber der alte Lehrer?) Dass in diesem Alter andere Themen als Schule im Vordergrund stehen (siehe oben), scheint nicht der Rede wert zu sein – weder im Film noch im realen Leben. Ist hierbei nicht ein Widerspruch in sich? Einerseits wird Jugendlichen ein „Pubertäts“-Stempel aufgedrückt, andererseits wird von ihnen erwartet, dass sie sich diesem gegensätzlich verhalten. Sind nicht gerade die Eltern und Lehrer so derart abgeschreckt vom pubertären Alter, dass sie diejenigen sind, die das zu erwartende Verhalten erst auslösen?

Selbst- und Fremdwahrnehmung

„Sowas machen Jungs in meinem Alter“, sagt Benjamin an einer Stelle und es wirkt, als müsse er genauso handeln. Auf der anderen Seite betrachtet er sich als „anders“; gleich zu Beginn stellt er sich vor der neuen Klasse als „Krüppel“ vor und sieht dabei sehr bedrückt und geknickt aus. Seine Schwester bezeichnet diese Verhaltensart in einer späteren Szene als Selbstmitleid.

Benjamins Selbstbild scheint jedenfalls keins voller Vertrauen und Mut zu sein; was sich im Laufe des Films – angetrieben von der großen Liebe – ändert. Oft ist er derjenige, der im Schatten steht. Das wird anhand von filmischen Mitteln anschaulich dargestellt: So steht Benjamin beispielsweise außerhalb der Tanzfläche, alleine, oder ist durch das Glas von dem Ort des Geschehens getrennt. An dieser Stelle ist er der Außenseiter, der zusehen muss, wie sich sein bester Freund Janosch an Malen, in die er verliebt ist, ranmacht und sie schlussendlich küsst. Wie soll Benjamin darauf reagieren? Er ist verzweifelt. Hier nimmt sein mangelndes Selbstvertrauen überhand, er wird wütend, beginnt zu weinen – und sich aufzuführen wie jemand, der nicht weiß, wie er seine Gefühle kontrollieren soll.

„Die Behinderung macht es manchmal echt schwer“, sagt Malen in seiner Vorstellung. Es ist seine Vorstellung von dem, was andere über ihn und seine Behinderung denken. Ein besonders großes Problem scheint sie im Alltag aber nicht zu sein. In einer Szene braucht er beim Treppensteigen eine Pause. Beim Bockspringen im Sportunterrich klappt es auch nicht wie bei seinen Mitschülern. Darüber hinaus gibt es jedoch keine Einschränkungen. Mehr als beim Film rückt die Behinderung im Buch in den Hintergrund. Zwischenzeitig kann man beim Lesen auch mal vergessen, dass der Protagonist eine Behinderung hat. Wichtiger als diese sind die Themen, die Benjamin beschäftigen: Liebe, Freundschaft, Eifersucht. Diese Dinge bedingen einander.

Rollenkonstellationen

Benjamin ist keinesfalls einer von den „typischen“ Jugendlichen, die sich nur gut und cool fühlen können, wenn sie rauchen und Alkohol trinken. Diese Rolle übernimmt sein Freund Janosch. Wie so oft in Filmen, sind klare Rollenkonstellationen zu erkennen: Es muss immer einen Coolen geben, einen Dicken, einen Schlauen, einen Außenseiter, einen Spaßvogel. Diese Konstellation findet sich zum Teil auch im Film „Crazy“ wieder: Janosch ist der Coole, Kugli ist der dicke Freund, der zugleich der beste Kickerspieler ist, Florian „wird von allen nur Mädchen genannt“, „der dünne Felix wartet auf den Durchbruch als Musiker“, Troy ist wohl der Außenseiter der Gruppe, „oft sagt er tagelang kein einziges Wort“.

Welche Rolle übernimmt Benjamin innerhalb dieser Gruppe? Anfangs ist er noch der Neue, der sich wünscht, ganz „normal“ behandelt zu werden, „wie alle anderen auch.“ Das wird er dann auch. Nach dem „Ritual“ ist er zunächst innerlich verletzt und verzweifelt. Als er sich jedoch gegen das Telefonat mit seiner Mutter entscheidet, ist er in der Gruppe aufgenommen. Mit dieser beginnt er, all die Erfahrungen eines „typischen“ Jugendlichen zu machen, aber so richtig in diese Rolle scheint er nicht zu passen.

Umgang mit Behinderung

Benjamins Selbstbild und sein Umgang mit der Behinderung spiegeln sich in einigen Szenen im Umfeld wider: Die Mutter behütet ihn sehr, der Sportlehrer lobt ihn, als er beim Bockspringen – statt zu springen – darüber klettert. Im Gegensatz hierzu verhalten sich seine Mitschüler so, als sei die Behinderung etwas völlig Normales. Seine Schwester glaubt, Benjamin würde sie nur als Ausrede für alles nehmen, und Kugli besteht darauf, dass es beim „Kekswichsen“ keine Sonderbehandlung gibt. Entweder machen alle mit oder keiner – und die Regeln gelten ausnahmslos für alle.

Über Benjamins Behinderung wird sowohl im Buch als auch im Film offen gesprochen. Es ist kein Tabu-Thema, weder für Benjamin selbst noch für seine Umwelt. Ähnlich verhält es sich im Film „Umweg nach Hause“, der ebenfalls auf einem Roman basiert. Anders als bei „Crazy“ hat der Autor Jonathan Evison keine autobiografischen Aspekte in seinem Werk verarbeitet – zumindest keine den Lesern beziehungsweise Zuschauern bekannten.

Verpackt ist die Geschichte um einen behinderten Jugendlichen, der wegen einer Duchenne Muskeldystrophie im Rollstuhl sitzt, in einem etwas anderen Kontext. Hier ist neben dem Jugendlichen namens Trevor ein Erwachsener, Ben, der Protagonist. Weder Freunde noch Schule spielen (zunächst) eine große Rolle. Trevor scheint genauso alt zu sein wie Benjamin in „Crazy“, geht mit seiner Behinderung allerdings etwas anders um: kein Selbstmitleid, dafür eine Schutzmauer, bestehend aus Zynismus und Sarkasmus.

Eigentlich soll diese Verhaltensweise, die eine Mischung aus „pubertärer Phase“ und den Umgang mit seiner Behinderung darstellt, auf Ben abschreckend wirken. Doch dieser ist innerlich so kaputt, dass ihn nichts mehr trifft. Was in diesem Film sehr anschaulich dargestellt wird, ist die Beziehung zweier Menschen, die ein Päckchen zu tragen haben: Trevor muss damit leben, niemals wieder laufen zu können – sein Problem ist daher ein körperliches – und Ben muss seine Vergangenheit verarbeiten. Seitdem seine zwei Kinder bei einem Autounfall ums Leben gekommen sind und ihn daraufhin seine Frau verlassen hat, ist er seelisch am Ende. Wer also kümmert sich in diesem Film um wen? Ist es der im Rollstuhl sitzende Jugendliche, der Ben eine Aufgabe und damit etwas Lebenssinn gibt? Oder kümmert sich Ben als Pfleger um Trevor, damit dieser seinen Alltag bewältigen kann?

Kein Tabu-Thema – für Jugendliche

Auch in „Umweg nach Hause“ ist die Behinderung kein Tabu-Thema. Allerdings fällt auf, dass Ben etwas zurückhaltender mit seinen Fragen bezüglich der Behinderung ist als Dot, die Trevor direkt darauf anspricht, als sie ins Gespräch kommen. Auf ihre direkten Fragen erhält sie direkte Antworten. Es ist Ben, der das Gespräch unterbricht und auf die Speisekarte lenkt. Den Jugendlichen scheint dieses Thema keinesfalls peinlich zu sein – möglicherweise ist gerade dieser offene Umgang erwünscht, um keine ausgeschwiegenen Peinlichkeiten zwischen sich zu haben.

Alles in allem wirkt „Umweg nach Hause“ erwachsener als „Crazy“, obwohl es in beiden Filmen um einen Jugendlichen geht, der mit einer Behinderung lebt. Während „Crazy“ jedoch die „typischen“ Merkmale eines Jugendfilms (siehe oben) aufweist, ist „Umweg nach Hause“ nicht darauf ausgerichtet, den Zuschauern zu zeigen, wie sich Jugendliche auf Partys verhalten. Hier ist der Schwerpunkt anders gelegt – und zwar auf einer tieferen Ebene der Vergleich von psychischen und physischen Problemen, der Beziehung zwischen einem Jugendlichen und einem Erwachsenen, der zunehmend eine vorher nicht vorhandene Vaterrolle einnimmt.

Der „Pubertäts-Behinderten“-Stempel

Ist „Umweg nach Hause“ dann noch ein Jugendfilm? Oder bedient dieser Film nur einige Elemente eines Jugendfilms, um eine breitere Masse anzusprechen? Die Frage, inwieweit Pubertät und Behinderung zusammenspielen und was davon der größere Auslöser für das Verhalten des Protagonisten ist, ist in beiden Filmen gegeben.

„Er ist gerade in der Pubertät!“ ist wohl ein Satz, der vermutlich im Zusammenhang mit Behinderung nicht so schnell fallen würde, sei es aus Rücksicht oder Unsicherheit bezüglich des wahren Verhaltensauslösers. Hier wird nicht nur der „Pubertäts“-Stempel aufgedrückt, sondern – zumindest seitens der Erwachsenen – der „Pubertäts-Behinderten“-Stempel. Der Umgang zwischen Gleichaltrigen ist da, wie die Filme „Crazy“ und „Umweg nach Hause“ zeigen, ein anderer.

Illustration: Seitenkünstler Aaron

 

Ein Beitrag zum Special #Kunterbunt. Hier findet ihr alle Beiträge.
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