2019 wurde der Belgier Bart Moeyaert mit dem Astrid Lindgren Memorial Award ausgezeichnet. In seinem neuen Roman „Bianca“ geht es um einen Nachmittag im Leben eines Mädchens. Worteweberin Annika hat an diesem Nachmittag Mäuschen gespielt.
Biancas Vater meint, seine Tochter sei nicht mehr händelbar. Ihre Mutter, man brauche für sie eine Gebrauchsanweisung. Ob sie selbst diese gelesen hat, bleibt offen. Zumindest Bianca hat das Gefühl, ihre Mutter interessiere sich nur für den jüngeren Bruder Alan, denn Alan ist sehr krank. Dadurch steht seine Schwester in seinem Schatten, verzieht sich in ihr Geheimversteck hinter dem Hühnerstall und macht manchmal ziemlich gemeine Sachen. Besonders seit ihr Vater vor einiger Zeit ausgezogen ist und mit einer Vierundzwanzigjährigen zusammenlebt, hätte Bianca ziemlich oft Grund, sich zu entschuldigen. Aber viel besser kann Bianca schweigen.
„Vielleicht wäre es besser, wenn ich mich wieder auf meinen Stuhl setze / mich unter einen Stein verkrieche / in meinem Zimmer die Fotos in der Schachtel meiner Mutter anschaue / aufhöre zu atmen. Und vor allem: den Mund halte.“ (S. 59)
Bart Moeyaert lässt in „Bianca“ die Gedanken der Zwölfjährigen sprechen. Vieles bleibt außerhalb davon ungesagt: was für eine Verschwendung die neue Küche ist, Erwartungen, all das „Schreckliche“ über die Familie, das sie sich lieber verkneift. Die sich überschlagenden Gedanken bildet der Text durch Schrägstriche ab, zwischen denen sich Biancas Einfälle aufreihen. Das verleiht dem Text eine besondere Note und lässt sich trotzdem sehr leicht lesen.
Peinliche Stille beherrscht immer wieder auch den Nachmittag, von dem der Roman erzählt: Alan bekommt Besuch von einem Freund – und dessen Mutter ist Schauspielerin in Biancas liebster Fernseh-Soap! Während die Jungs draußen spielen, sitzen die Mütter bei Kaffee und Kuchen auf dem Sofa und das Mädchen ist hin- und hergerissen. Durch Biancas Gedanken lernen die Leserinnen und Leser den Familienalltag ein Stück kennen, können sich vielleicht sogar in die Protagonistin hineinversetzen. Bart Moeyaert gibt Bianca in diesem Text viel Raum, begibt sich auf Augenhöhe mit der Zwölfjährigen.
„Alle Vögel im weiten Umkreis drehen uns den Rücken zu und zwitschern in die Gegenrichtung. Ich habe das Gefühl, in den anderen Gärten ist mehr Sonne als in unserem.“ (S. 65)
Obwohl man dem Mädchen in diesem Text sehr nahe kommt, habe ich mich beim Lesen gefragt, ob „Bianca“ tatsächlich ein Buch ist, das Kinder und Jugendliche gerne lesen – oder eines, von dem Erwachsene sich wünschen, dass sie es gerne täten. Außerhalb von Biancas Gedanken passiert wenig in diesem Roman. Wer selbst gerade in der Pubertät steckt, mag sich in diesen Gedanken wiederfinden, doch ob er oder sie darüber gerne lesen möchte? Zweifelsfrei ist „Bianca“ einfühlsam, stimmungsvoll und sprachlich wunderbar erzählt (und von Bettina Bach toll ins Deutsche übertragen). Trotzdem ist es für mich eher ein Kinderbuch für Erwachsene.
Bianca. Bart Moeyaert. Aus dem Niederländischen von Bettina Bach. Carl Hanser Verlag. 2020.
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