Du hast mich nach einem Duft gefragt …

von | 20.01.2017 | Kreativlabor

Du hast mich nach einem Duft gefragt und wonach es riecht. Nach Safran, Kardamom, Zimt und einer Meerbriese, nach dir und der Freiheit, die seit langem verloren gegangen ist. Ich konnte dir ein Lächeln entlocken. Der linke Mundwinkel zog sich zu deinem Auge, spannte deine Wange und ließ das kleine Grübchen erscheinen, das nur zu sehen war, wenn du lachtest. Es schien schwerfällig.
Wir saßen auf dem Dach der alten Fabrikshalle. Die Sonne schien auf das Banner, das seit Jahren nicht mehr erneuert worden war, zerrissen von Regen, Schnee und Eis, abgewaschen und ausgebleicht, doch man konnte immer noch den Schriftzug entziffern „für einen unbeschwerten Tag – nie wieder im Regen stehen!“
Einst waren hier Regenschirme und Mäntel gefertigt worden. Doch die Tage, als das Geschäft noch rauschenden Absatz und grüne Zahlen eingefahren hatte, waren schon lange vorbei. Du kanntest es nicht, weil es abgeschieden war, sagtest du, weil es zu weit außerhalb der Stadt lag und du nie hierher kämst. Weil du meist mit deinen Freunden in der Stadt unterwegs warst. In der gehobenen Gesellschaft verkehrtest, wo dieser Bezirk als unfein galt. Ich nickte und erzählte dir von den Tagen, als Freunde und ich uns hier versteckten, Glasscherben sammelten, um sie zu etwas Neuem zusammenzusetzen, Graffiti an die Wände malten, obwohl keiner wirklich sprayen konnte. Noch heute seien die Schriftzüge und die unfertigen Gemälde von uns zu sehen.
Dann fing ich an zu fotografieren. Ich liebte den Lichteinfall der zerbrochenen Fenster, in deren Rahmen nur vereinzelt noch spitze Scherben steckten. Dass gerade Im Sommer, wenn die Sonne im richtigen Winkel einfiel, man den sonst so grauen Raum in allen Farben erstrahlen sehen konnte. Ich mochte die Bilder und versprach, sie einmal aus meiner Sammelkiste zu holen. Es waren Analogfotos. Anfangs meist noch schwarz-weiß gehalten, später mischten sich dann auch Farbfilme hinein. Besondere machte ich mit meiner Hasselblad 500c – alles schien weicher, da man nicht direkt durch den Sucher das Objekt, sondern über einen Bildschirm – der Blick Richtung Boden – fixierte und die Halle über ein weiteres Eck einfing.
Warum sie mich dann noch nie fotografieren gesehen hatte, wollte sie wissen, blickte mich erstaunt an und hoffte auf eine weitere Geschichte, etwas Tragisches, was mich dazu veranlasst hatte. Damit konnte ich nicht dienen. Ich umarmte sie nur etwas fester als zuvor und küsste ihre Stirn. Für einen Moment lang legte sich alles um uns in Stille.
Unterbrochen wurde sie vom Herannahen eines Autos, welches in die schmale Seitenstraße einbog, von der Dunklergasse in die Schönwalderstraße. Auch wenn man es nicht sah, erkannte man das Motorengeräusch des Fahrzeugs. Das zu nahe an die Fabrik gebaute Gebäude gegenüber hatte schon damals für einen riesen Bauskandal gesorgt, von dessen Schlagzeile ich einst in unterschiedlichen Zeitungen erfahren hatte.
Das Wippen der Hollywoodschaukel, die wir einst aufs Dach gehievt hatten, erstanden von einem alten Ehepaar auf dem Friedrichhagener Flohmarkt, welche die Polster, in weißgepunktetem Kanariengelb, extra hatten neu überziehen lassen, quietschte leise im Rhythmus unserer Beinbewegungen. Ohne dich wäre mein Leben leer, meintest du und küsstest mich. Trotzdem würdest du deine Freunde vermissen. Die Entscheidung fiele dir immer noch schwer, auch wenn du endlich angekommen wärst, würde etwas fehlen [deine Familie]. Du wollest sie besuchen fahren. Ich verstand dich gut. Meinen rechten Arm um deine Schulter gelegt, schaukelten wir weiter. Du suchtest meine Aufmerksamkeit und stupstest dabei leicht in meine Rippen.
Liebst du mich auch? Ich nickte, schaute aber weiterhin in den blauen Himmel. Ein leiser Seufzer entglitt dir, als du deinen Kopf in meinen Schoß legtest. Ich strich dir durchs Haar und du wusstest, dass ich fliegen würde – weg von der Eintönigkeit, die mich umgab, hinein in die Freiheit, die ich vermisste, auch wenn du sie erträglich machtest.
Wir sehen uns wieder, flüstertest du, in der Hoffnung, dass ich es hörte, auch ohne es laut sagen zu müssen. Ich lächelte und vergoss eine Träne, mit dem unausgesprochenen Lippenbekenntnis, sie nie [wieder] im Regen stehen zu lassen, egal, wo ich auch war. Du dachtest dasselbe und blicktest dabei in die Wolken.
Im Hintergrund wehte das Banner im Wind. Einige Stunden verbrachten wir noch hier, schaukelnd, ohne viel zu sprechen. Der Himmel, der uns so nahe vorkam, färbte sich vom hellen Blau, gefangen von Sonnenstrahlen, in ein immer dunkler werdendes, bis die Sterne sich langsam, einem Dimmer ähnelnd, zu zeigen begannen. Es war acht Uhr abends, als du deine Augen schlossest.
Ich liebe dich…, doch du hattest bereits geschlafen. Tags darauf saß ich im Flugzeug und blickte aus dem Himmel auf dich herab, dem Duft entgegenfliegend, nach dem du mich fragtest.

Stadtbesucher Raoul Eisele
Illustration: Spurenlaserin Kathi

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