Die Teufelsmauer (Teil 2)

von | 29.06.2019 | #BKmusikalisch, Kreativlabor, Specials

[tds_info]Hier könnt ihr den 1. Teil der Geschichte lesen. [/tds_info]

Am Fuß der Felswand angekommen, trennten sie sich. Thorsten stieg die schmale, in den Stein gehauene Treppe zur Gipfelplattform hinauf. Suse ging vorbei an quatschenden, singenden und trinkenden Metallern an den Rand der Felswand. Sie sah sich kurz um, bevor sie den Schädel aus der Umhängetasche zog. Tief durchatmend sandte sie all ihre Konzentration in den Knochen. Auf diese Weise würde sie dem Gefühl, dass er ihr gab, wie einem Kompass folgen können. Je stärker es wurde, desto sicherer ging sie in die richtige Richtung. Ein bisschen konnte sie sich auch an Julias Erzählung orientieren. Vorsichtig kletterte sie um die Mauer herum, den Schädel weiter in der Hand. Doch alles, was sie dort fand, war ein bedrückendes Gefühl, das sich auf sie legte. Langsam ließ sie ihren Blick über die Wiese schweifen und drehte sich dabei mit. Je dichter sie der Mauer kam, desto stärker wurde das Gefühl. Suses Hände zitterten. Dutzende Möglichkeiten gingen ihr durch den Kopf, was sich dahinter verbergen könnte. Ein Teil von ihr wollte umkehren, das alles vergessen und ignorieren. Der andere drehte sich zur Mauer um und betrachtete einen Spalt in der Felswand. Der Schädel in ihren Händen fühlte sich warm an. Das musste der Ort sein! Hier war der Fuchs umgekommen!
„Hallo?“, flüsterte sie unsicher, „Ist da jemand?“ Sie blickte in die Dunkelheit, als zwei leuchtende Augen ihr entgegenschauten.
Suse schrie auf und machte einen Satz nach hinten, der sie auf den Hosenboden und den Schädel ins Gras beförderte.
„Was suchst du hier, Menschling?“, dröhnte ihr eine Stimme entgegen, als sich ein riesiges Wesen aus der Dunkelheit schälte.
„I-i-ich …“, stotterte sie und versuchte zurückzukriechen. Ihre Hände fanden weitere Knochen und sie schluckte. Curiosity killed the cat, schoss es ihr durch den Kopf.
„Nun erschreck die Kleine doch nicht so“, ertönte eine sanftere Stimme hinter dem Koloss und der dazugehörige, nicht viel kleinere Körper schob sich an ihm vorbei.
„Sie ist in unserem Territorium!“
„Waren die beiden Mädchen neulich auch.“
„Die hätte ich auch gefressen, wenn du mich gelassen hättest“, brummte der Hüne.
„Es tut mir leid“, versuchte Suse und hockte sich auf die Knie, ihr Blick gesenkt und auf den Schädel gerichtet.
„Keine Angst, er wird dich nicht fressen“, versicherte der sanftere Hüne. „Was machst du hier?“
„Ich glaube … euch suchen …“, Suse versuchte es mit Ehrlichkeit und sah auf.
„Uns?“ Die beiden sahen sich verwundert an.
„Na gut, komm rein, bevor uns noch jemand sieht …“, beschloss der Sanfte.

Das Innere der Felswand war geräumiger, als Suse es erwartete. An der hohen Decke hingen Tierkadaver und Kräuter zum Trocknen. In Regalen standen neben Tonkrügen auch Einmachgläser und andere Gegenstände, die menschlicher wirkten als ihre Besitzer.
„Setz dich“, forderte der Sanfte auf.
In der Mitte des Raumes stand ein Steintisch, um den mit Moos gepolsterte Baumstümpfe standen. Sie setzte sich auf einen leeren und betrachtete kurz den Inhalt einer hölzernen Suppenschüssel, aus der ein Auge sie betrachtete. Suse schluckte.
„Wir Trolle fressen zwar auch Menschen, aber das ist Reh“, erklärte der Sanfte, als er Suses Blick bemerkte. „Heutzutage ist es leider nicht mehr so einfach, euch zu verspeisen. Ihr sucht zu schnell nach euren Artgenossen.“
Suse starrte sie nur an.
„Hör auf, um den heißen Brei herumzureden, Pellar!“, fuhr der Ruppige ihn an. „Was suchst du hier?“, wandte er sich an Suse und ließ sich schwer auf dem Baumstumpf neben ihr fallen.
„Gondorf …“, seufzte Pellar. „Bitte entschuldige meinen Bruder. Er ist während eurer Feierlichkeiten immer etwas grantig.“
„Diese Wüstlinge machen unseren Felsen kaputt! Kotzen und pissen, wo es ihnen passt! Und lassen überall ihren Dreck liegen!“, schimpfte dieser.
„Wenn sie wüssten, dass hier jemand lebt, würden sie vielleicht sorgsamer sein“, versuchte Suse zögerlich, konnte den Gedanken an die dreckigen Campgrounds aber nicht unterdrücken.
„Pah! Als ob ich mich denen zeigen würde!“ Trotzig verschränkte Gondorf die Arme vor der Brust.
„Habt ihr euch überhaupt mal mit dem Festival beschäftigt?“, fragte Suse vorsichtig. Sie hatte immer noch Angst, dass das Gespräch umschlagen würde, aber momentan wirkten die beiden zumindest bereit, sich mit ihr auszutauschen.
„Die machen Krach, stinken und randalieren. Was gibt es da mehr zu wissen?“
„Einiges“, widersprach Suse etwas mutiger. „Menschen aus aller Welt kommen zusammen, um gemeinsam ihre Musik zu feiern. Menschen, die nicht mal die gleiche Sprache sprechen, liegen sich in den Armen und singen.“ Es war schwer, diese Gefühle in Worte zu fassen, die Festivals so einzigartig machten, also versuchte sie es anders: „Wollt ihr euch das nicht vielleicht einfach mal ansehen?“
„Ansehen?!“
„Das Schlimmste, das passieren kann, ist, dass sie euch Komplimente zu euren Kostümen machen.“
„Wir können auch eine menschliche Gestalt annehmen …“, Pellar klang durchaus interessiert, als sie sich über das knubbelige Kinn strich.
„Du willst das doch nicht wirklich machen?“ Gondorf war entsetzt. „Es reicht schon, wenn wir unter die Menschen müssen, um unsere Vorräte aufzustocken … Jetzt willst du mit ihnen feiern?“
„Warum nicht? Es könnte spaßig werden!“
„Es gibt auch gutes Essen, Bier und Met. Falls das hilft …“
„Siehst du?“
Gondorf schnaubte. „Na gut.“
Ein Schimmer legte sich über die grünlich-braune Schuppenhaut der beiden. Darunter kam sonnengebräunte menschliche Haut zum Vorschein. Gondolf war noch immer groß und muskulös, seine Haare und Bart wirkten grün und filzig, die Kleidung eher mittelalterlich. Pellar unterschied sich nur von ihm in ihrer Größe und einem dezent erkennbaren Dekolleté. Sie war etwas kleiner, ihre Haare und ihr Bart gepflegter.
Suse beobachtete das Geschehen fasziniert.

Gemeinsam umrundeten sie die Felswand und auf der anderen Seite trafen sie Thorsten, der bereits wartete. Er hatte sich das T-Shirt übergezogen und spielte mit der leeren Plastikflasche.
„Lass die ja nicht liegen“, brummte Gondorf zur Begrüßung.
Thorsten sprang erschrocken auf, als er die Hünen sah und Suse zwischen ihnen erkannte. „Suse, wo warst du? Und wer ist das?“
„Das sind Gondorf und Pellar, ich hab sie auf der anderen Seite getroffen und sie wollten auch wieder runter“, stellte Suse die beiden vor.
„Hi, ich bin Thorsten. Nett euch kennenzulernen.“ Er winkte den beiden enthusiastisch.
„Ein guter Name“, kommentierte Gondorf, den Mundwinkel leicht angehoben.
„In dieser Szene definitiv. Auch wenn mir die Leute ständig wallende Perücken andrehen wollen“, scherzte Thorsten und strich sich theatralisch über die Glatze.

Der Abstieg war beschwerlicher, vor allem für die Trolle, die gelegentlich ihr Gleichgewicht verloren und ausrutschten. Mit finsterem Blick richtete sich Gondorf wieder auf und brachte die Schadenfreude der anderen damit zum Erliegen.
Auf dem Campground angekommen wurden sie sogleich von Musik beschallt. Thorsten stimmte in ein Lied mit ein und bald schon sang er mit den Campbewohnern im Quintett, während die anderen dem Spektakel lauschten. Schmunzelnd und mit Bierdosen beladen, gingen sie nach dem Lied weiter.
„Nicht schlecht“, befand Gondorf nach dem ersten zögerlichen Schluck.
„Es gibt bessere Sorten, aber für Festival ist das ganz in Ordnung“, erklärte Thorsten und leerte seine Dose, die er anschließend umständlich versuchte in die Hosentasche zu stopfen.
Gondorf nahm ihm die Dose ab und zerquetschte sie zwischen seinen gewaltigen Handflächen.
„Woah …“, kommentierte Thorsten und steckte sie ein. „Wird sich nachher doof werfen lassen, aber hammer Trick!“ Während er sprach, gestikulierte er mit der Wasserflasche, die er beim Singen als Mikrofon genutzt hatte.
„Werfen?“, fragte Pellar.
„Na, die Torwand von Glück in Dosen“, erklärte Thorsten nur mit einer Demonstration, was die anderen nur mit einem Schulterzucken abtaten.

„Das Shirt hab ich ewig nicht mehr gesehen“, kommentierte Suse, als sie bereits ein Stück gegangen waren, um die Stille zu umgehen, die sich über sie gelegt hatte.
„Jaaa, ein alter Schatz …“, bestätigte Thorsten und strich nahezu liebevoll über das breit grinsende Edguy-Maskottchen.
„Haben die Kleider eine Bedeutung?“, fragte Pellar so, dass nur Suse sie hören konnte.
„Indirekt. Seins ist von einer Band, meines ist vom Festival. Wir zeigen damit, was uns gefällt oder auf welchen Konzerten und Festivals wir schon mal waren.“
Pellar nickte.

Kurz vor dem Festivalgelände stand der Wagen, von dem Thorsten gesprochen hatte und er erklärte, was sie tun mussten. Suse hatte ihre Dose den anderen überlassen und Pellar ihre mit dem ersten Wurf versenkt. Während die anderen die restlichen Dosen mit mehr oder weniger Erfolg warfen, nahm Suse Pellar zur Seite.
„Ihr braucht noch Bändchen“, verkündete sie und zeigte auf ihres.
Pellar schmunzelte nur, bückte sich, um einen Grashalm abzureißen. Kurz darauf legte sie sich diesen aufs Handgelenk und er veränderte sich in ein Ebenbild des Gezeigten.

Suse war mulmig zumute, als sie die Eingangskontrollen passierten. Nicht nur wegen der künstlichen Bändchen, sondern weil ihr einfiel, dass sie den Schädel oben hatte liegen lassen. Julia würde traurig und vielleicht wütend sein, auch wenn sie ihn selbst liegen gelassen hatte. Entgegen ihrer Erwartung wurden sie nicht aufgehalten und konnten ungestört aufs Gelände und zu den Fressbuden gehen. Gondorf entdeckte einen Burger für sich, während Pellar sich Fisch gönnte. Womit sie tatsächlich bezahlten, wollte Suse gar nicht wissen.

Die beiden waren erstaunlich begeistert, auch von den freundlichen Menschen. Nur der Müll gefiel ihnen nicht sonderlich. Das hatte Suse schon in ihrer Höhle gemerkt und auch ihre genervten Blicke auf dem Campground gesehen.
„Sie räumen alles auf, sobald die Leute weg sind“, versicherte sie.
„Das ist noch harmlos hier. Wacken is‘ noch dreckiger. Da brachten früher die Leute zum Teil ihre Couchen mit, um sie dann anzuzünden. Hoffe, das haben sie mittlerweile geregelt bekommen“, ergänzte Thorsten. „Ne Freundin hat mal vom WGT erzählt. Das soll richtig sauber sein.“
„WGT?“, hakte Pellar nach.
Wave Gotik Treffen in Leipzig. Nicht meine Musik, deswegen war ich noch nie da, aber das Rahmenprogramm klingt interessant. Man muss nur halt zum Teil durch die ganze Stadt, um an die Veranstaltungsorte zu kommen.“
„Das ist nicht das einzige Fest dieser Art?“, fragte Pellar verwundert.
„Bei weitem nicht“, bestätigte Thorsten etwas verdattert.
Kurz darauf begann eine Band zu spielen, die Thorsten und Suse beide mochten. Um ihrer Begleitung entgegenzukommen – und sich nicht den Hass anderer Besucher einzufangen – hielten sie sich weiter hinten. Das änderte allerdings nichts am Spaß, den sie hatten, als sie inbrünstig mitsangen und -tanzten. Auch den Trollgeschwistern gefiel es.

„Met?“, fragte Thorsten schließlich nach dem Set.
„Met“, bestätigten die anderen mit einem Nicken.
„Ich hab keine Ahnung von menschlichen Balzritualen, aber ich bin mir ziemlich sicher, er macht dir Aufwartungen“, kommentierte Gondorf trocken, als er Thorsten hinterher sah.
„Blödsinn“, entgegnete Suse mit einem Kopfschütteln.
„Doch, er hat schon recht. Das sieht nach menschlichem Balzverhalten aus“, stimmte Pellar zu.
Suse sah die beiden verwundert an. Konnte es stimmen? Ja, sie verstanden sich gut, hatten nach den anfänglichen Startschwierigkeiten viel Spaß gehabt. Doch bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, kam er bereits mit vier Krügen Met zurück.
„Nicht so gut wie der selbstgemachte unserer Mutter“, verkündete Gondorf.
„Woher kommt ihr eigentlich? Thüringer seid ihr schon mal nicht, die klingen anders“, fragte Thorsten neugierig.
„Norwegen“, antwortete Pellar knapp und erntete einen verwunderten Blick.
„Norwegen … irgendwie hätte ich euch eher in ′ne sonnigere Region gesteckt …“, überlegte er laut, bevor er stöhnend den Kopf in den Nacken warf. „Boah, mal wieder voll das Glatzen-Klischee bedient. Sorry. Durch Bands und so hab ich dieses Bild der großen Blonden im Kopf und das … sorry … ich hör besser auf zu reden, da komm ich eh nicht mehr raus …“
„Sagen wir so: Wir sind die etwas anderen traditionellen Norweger“, versuchte Pellar zu erklären und die beiden berichteten ein bisschen von ihrer Heimat und wie sie in den Harz gefunden hatten.

Als das letzte Konzert vorbei war, verließen sie gemeinsam das Gelände. An der Abzweigung zum Wanderpfad drehten sich die Trolle zu Suse um.
„Danke, dass du uns das gezeigt hast“, gestand Pellar ehrlich.
„Versteht ihr es jetzt besser?“, wollte Suse wissen.
„Was das mit unserem Felsen zu tun hat? Nein.“ Gondorf lachte laut auf. „Aber es war gut zu sehen, dass die Randalierer auch ganz angenehme Gesellschaft zu sein scheinen.“ Er machte eine Pause, bevor er verschwörerisch ergänzte: „Vielleicht überleg ich mir das mit dem Fressen doch nochmal.“
„Bitte tu das. Ich mag das Festival, wäre schade, wenn es abgesagt wird deswegen.“ Suse grinste. Sie wusste nicht genau warum, aber die Situation kam ihr einfach absurd vor.
Die beiden wandten sich mit einem Nicken zum Gehen und die Menschen winkten ihnen nach.
„Das war lustig“, kommentierte Thorsten, „Wo hast du die beiden eigentlich wirklich aufgegabelt?“
Suse grinste und ging ein paar Schritte voraus. „Das glaubst du mir eh nicht.“ Wenn die beiden recht hatten, konnte sie diese Chance nutzen, um ihm einen Einblick in ihre Welt zu verschaffen. Wenn er zu viel Panik davor hatte, dann konnte er sie nach dem Festival immer noch ignorieren und sie würden sich nie wiedersehen. Sie hatte riskiert, mit Trollen zu sprechen, die nicht abgeneigt waren, Menschen auf ihre Speisekarte zu setzen. Dagegen sollte jemandem zu zeigen, dass man ebenfalls Interesse hätte, doch ein Klacks sein.
„Versuch’s“, forderte er sie auf, die Arme hinter dem Rücken verschränkt.
Suse blieb stehen und drehte sich zu ihm um. „Die beiden sind Trolle, die oben in der Mauer leben und vom Festival genervt waren.“
„Du verarschst mich!“, rief er ihr entgegen, den Mund weit aufgerissen.
„Sag ich doch, du glaubst mir nicht“, erwiderte Suse nur mit einem Schulterzucken.
„DAS erklärt den Appetit und die Größe und woah! Es gibt Trolle?!“ Thorsten knetete aufgeregt seine Hände und stampfte von einem Fuß auf den anderen. „Was gibt es noch?“
„Alles Mögliche, man muss nur genau hinsehen.“

Text und Foto: Anne Zandt / PoiSonPaiNter
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