Der Leser als Allesforscher

von | 23.09.2014 | Auditorium, Hörbücher

Heinrich Steinfests „Der Allesforscher“ ist ein ganz und gar ungewöhnlich fantastischer Roman. Erschienen ist er im März dieses Jahres im Piper Verlag und landete Anfang September auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Zu Recht, meint Zeichensetzerin Alexa.

Nach einem schweren Unfall landet Sixten Braun in einem Krankenhaus, wo er von der Ärztin Lana behandelt wird. Er fühlt sich sofort zu ihr hingezogen und auch sie scheint nicht abgeneigt, sich näher kennenzulernen. Als sie beginnen sich zu treffen, kommen sie sich auch körperlich näher. Doch das Glück ist nicht von langer Dauer, schließlich ist Sixten verlobt und muss nach Hause zurückkehren. Er verspricht Lana, die Verlobung aufzulösen, alles für sie aufzugeben, zu ihr zurückzukommen. Zu Hause angekommen, kann er die Worte, die er auf dem Weg eingeübt hat, jedoch nicht über die Lippen bringen. So kommt das eine zum nächsten – er heiratet seine Verlobte, wird in der Firma ihres Vaters eingestellt und führt ein Leben, das ihn auf Dauer unglücklich macht. Nach zwei Jahren kommt die Scheidung. Er hätte seine Frau nie wirklich geliebt, behauptet diese und sie gehen verschiedene Wege. Nun, da Sixten ein freier Mann ist, beginnt er nach Lana zu suchen und findet heraus, dass sie tot ist.

Als eines Tages ein Anruf von einer Unbekannten kommt, verändert sich sein Leben schlagartig. Lana, so heißt es, hätte ein Kind zurückgelassen und nur er würde in Frage kommen, der Vater zu sein. Er als Vater? Sixten kann es erst nicht fassen, doch seine Liebe zu Lana verleitet ihn dazu, sich mit dem Kind zu treffen. Als Sixten Simon sieht, weiß er jedoch, dass dieses Kind nicht hätte von ihm sein können. Das Gesicht des Jungen hat nämlich chinesische Züge. Und doch muss Sixten wieder an Lana denken – wer sollte sich sonst um ihren Sohn kümmern, wenn nicht er? Simon wird adoptiert und die eigentliche Geschichte des Romans beginnt.

Der Leser als Allesforscher

Wer oder was ist ein Allesforscher? In diesem Roman finden sich Anspielungen auf Personen, die „alles erforschen“. Doch selbst der Leser wird plötzlich zum Allesforscher. Die Themenvielfalt lädt ein, sich in verschiedenen Bereichen zu informieren und zu hinterfragen. So werden Gedanken zur Umwelt geäußert, zur Gesellschaft und Wissenschaft. Die Situation und der Charakter Simons erfordern eine Auseinandersetzung mit den Themen Adoption und Inklusion. Nicht nur seine Lebensbedingungen sind besonders, sondern auch seine Fähigkeiten.

Er beweist sich in einer Welt, in der keiner seine Sprache versteht, und zeigt, dass er dafür ganz andere Dinge beherrscht: Zeichnen und Klettern. Simon ist der Beweis, dass eine Adoption positiv verlaufen und Inklusion funktionieren kann – auch wenn man wenig über Simons Schulalltag erfährt, scheint es keine Schwierigkeiten zu geben, denn Probleme diesbezüglich werden nicht geäußert. Bewundernswert ist an dieser Stelle die Erziehung Sixtens und seiner neuen Partnerin. Gemeinsam zeigen sie, dass es nicht wichtig ist, ob es das leibliche Kind ist oder nicht, vielmehr spielt der Umgang miteinander die entscheidende Rolle.

Neben den sozialen Themen wird die „Traumwelt“ erforscht. In dieser begegnet Sixten seiner toten Schwester, die ihn vor einer Gefahr bewahren will. Schon lange kann Sixten nicht mehr ruhig schlafen, Alpträume suchen ihn heim, verhindern, dass er sich ausruhen kann. Fantasie und Realität vermischen sich. Die Handlung erscheint einem absurd, verrückt, unglaublich: Ein explodierender Wal, ein Ertrinkender in einem Kleiderschrank, seine Schwester, die Messer um sich wirft…

Die Hörbuch-Version

Die Hörbuch-Version ist leider gekürzt, auf den Genuss der Geschichte kommt man aber trotzdem. Markus Boysens Stimme ist anfangs noch gewöhnungsbedürftig, scheint sie doch etwas unpassend zum Roman gewählt. Doch sobald man sich mit seiner Art vorzulesen angefreundet hat, kann man sich gänzlich auf die Geschichte einlassen. In stets schnellem Tempo, als hätte der Sprecher viel zu sagen und nur begrenzt Zeit, erlebt man den Roman in einem weiten, bis zum Ende aufrecht gehaltenen Spannungsbogen. Es wirkt wie ein langer Marathon, den man, sobald man erst dabei ist, nur ungern abbrechen möchte.

„Der Allesforscher“ ist ein ungewöhnlicher, lesens- und hörenswerter Roman. Ob er als Sieger des Deutschen Buchpreises hervorgeht, bleibt abzuwarten.

Der Allesforscher. Heinrich Steinfest. Sprecher: Markus Boysen. OSTERWOLDaudio. 2014.

 

Bücherstadt Magazin

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