Deduktionen in den Zeiten der Cholera

von | 17.05.2015 | Belletristik, Buchpranger

Buchstaplerin Maike kann von Sherlock Holmes einfach nicht genug bekommen. Deshalb hat sie „Teufelsgrinsen“ von Annelie Wendeberg gelesen, in dem eine starke Frau den Vorurteilen der Gesellschaft und Holmes‘ entwaffnenden Deduktionskünsten entgegentritt. Dabei nutzt der historische Kriminalroman leider nicht immer sein Potenzial …

London, 1889. Dr. Anton Kronberg ist Englands führender Bakteriologe. Selbst Scotland Yard kann auf seine Expertise nicht verzichten. Als ein Cholera-Toter aus dem Wasserwerk gefischt wird, ist Kronberg zur Stelle, und nicht nur er. Auch Sherlock Holmes persönlich ermittelt. Eine Tortur für Kronberg, denn sofort erkennt der Detektiv, dass unter der Männerkleidung eine Frau steckt, die für ihren Wissenserwerb ein illegales Versteckspiel in Kauf nimmt. Doch Anna Kronberg bietet Holmes die Stirn. Und bald bleibt den beiden nichts übrig, als zusammen zu ermitteln, um London vor einer Epidemie zu bewahren. Schnell stellt sich heraus: Die Spuren führen in höchste Kreise…

Eines der ersten Dinge, die ich als Erwachsene lernte, war, dass Wissen und Fakten bedeutungslos werden, setzt man Menschen einer guten Dosis Angst und Vorurteilen aus.“

Eine kopfgesteuerte Frau, die für die Wissenschaft eine Männerrolle lebt. Der scharfsinnigste Verstand Londons, der die Verkleidung sofort durchschaut. Das ist eine Konstellation, die für mich den Reiz beim Lesen ausgemacht hat, aber im Lauf des Romans das Potenzial nicht ausgenutzt hat. Das intellektuelle Duell, das sich zu Beginn vielversprechend anbahnt, verebbt ab der Hälfte und verliert sich in dem viel zu linearen Plot und aufkeimenden Gefühlen. Der Kriminalfall hätte verstrickter ausfallen und mehr Verwirrspiele aufweisen müssen, um wirklich zu fesseln. Erfrischend hingegen ist Kronbergs trockener, zynischer Humor, mit dem sie den Missständen der Gesellschaft begegnet.

Wirklich überzeugend ist vor allem die Darstellung des Kriminalfalls: Zwischen schlimmster Seuche und selbstloser Wohltätigkeit wird die gehobene viktorianische Gesellschaft als scheinheilig entblößt. Hier spiegelt sich Kronbergs eigenes Versteckspiel, das nur von einem scharfen Verstand durchschaut werden kann – ein Motiv, das im Roman mehrmals wiederkehrt. Die Beschreibungen der Krankheiten lösen beim Lesen einen kalten Schauer aus und lassen das viktorianische Zeitalter in all seinem Dreck lebendig werden.

Fazit: Annelie Wendebergs erster Roman beginnt stark und flaut inhaltlich bald ab. Nichtsdestotrotz ist „Teufelsgrinsen“ eine schnelle Lektüre für Zwischendurch, die durch Atmosphäre und interessante Figurenkonstellationen gefällig ist.

Teufelsgrinsen. Annelie Wendeberg. Übersetzung: Kathrin Bielfeldt, Jürgen Bürger. Kiepenheuer & Witsch. 2015.

 

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

3 Kommentare

  1. Avatar

    Mir hat das Buch wirklich gut gefallen. Ich muss dir zustimmen, dass der Fall etwas verstrickter hätte sein können, aber die Idee des Buches ist total klasse.

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    • Bücherstadt Kurier

      Für Zwischendurch hat das Buch auf jeden Fall Spaß gemacht. Es kommt einfach nicht an die Komplexität heran, die man sich bei einem solchen versprochenen intellektuellen Duell erhofft. Vielleicht lese ich bald den zweiten Band, denn Kronbergs Rollenspiel ist eindeutig ein toller Ausgangspunkt! (Maike)

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      • Avatar

        Ja, man hätte einen schönen Schlagabtausch mit reinbringen können

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