Das Leben leben

von | 21.07.2015 | Belletristik, Buchpranger

Einen Moment innehalten, dem schnelllebigen Alltag entfliehen, mal nicht erreichbar sein – dieses Gefühl vermittelt Christian Haller in seinem Werk „Die Stecknadeln des Herrn Nabokov“. Hier widmet sich der Autor den scheinbar Unscheinbaren Dingen des Lebens, zwischen Modernisierung und Natur.

Unsere Welt wird durch soziale Netzwerke und Smartphones beschleunigt. Der Kalender ist vollgestopft mit Terminen, Freizeit mit Freunden und Verwandten muss erst einmal geplant werden, stets unter dem Vorbehalt, dass etwas dazwischen kommen könnte. Bereits das Finden eines gemeinsamen freien Termins ist schwieriger als gedacht. Haller beschreibt eine Gruppe von Menschen, die in ihrem Kalender blättert bzw. dem Smartphone scrollt, auf der Suche nach einem passenden Datum. Erfolgreich ist sie nicht – und so wird beschlossen, das Treffen auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen und sich per Mail über das genaue Datum zu verständigen.
„Das Leben ist der Narr der Zeit, und Zeit muss enden“, zitiert Haller Shakespeare. Zeit als kostbares Gut, das uns verlorengeht, je mehr wir der beschleunigten Welt verfallen, Zeit als Austausch gegen Waren, Zeit nur in Verbindung mit Produktivität. Wollen wir wirklich so leben? Haller weckt das Gefühl des schlechten Gewissens und bietet in seinen nächsten Prosatexten eine alternative Welt. Jene nämlich, die den Blick auf die schönen, kleinen Dinge des Lebens lenkt, die zeigt, dass es außerhalb der modernen Welt noch etwas gibt, wofür es sich zu leben lohnt – und sei es nur für einen Augenblick des Innehaltens in einer schönen Landschaft.

„Einen Augenblick verstummt standen wir in der weiten, großzügigen Landschaft: Träg schob sich der Strom zwischen flachen Ufern an uns vorüber. Das Schilf wiegte sich im Sommerwind, wir blickten übers Wasser in die Ebene, wo im Grasland die Weidenbäume ihre Äste neigten. Die Wolken segelten über den weitgespannten Himmel, und langsam kam ein Schiff stromaufwärts gefahren.“

Was zunächst wie eine banale Alltagsbeschreibung wirkt, entpuppt sich als poetische Malerei des Lebens. Das, was beschrieben wird, kann man mit allen Sinnen begreifen. Geweckt wird der Wunsch, jetzt gleich hinauszugehen, den Regen zu spüren, ohne sich unter dem Regenschirm zu verstecken, jeden Grashalm unter die Lupe zu nehmen. Man möchte das Smartphone ausschalten, den Kalender wegwerfen und anfangen zu „leben“. Der Alltag ist zerrüttet, man fragt sich, welchen Sinn dieses Gehetze überhaupt hat, wenn am Ende unseres Lebens doch nur eines zählt: dass man das Leben glücklich gelebt hat. Dies mag kitschig klingen, doch Kitsch findet sich in diesem Werk keiner. Sehr klar und treffend ist die Sprache, die Bilder werden durch Beschreibungen erzeugt, ohne übertriebene Ausschmückungen zu enthalten. Vielmehr hat man die Freiheit, sich ein eigenes Bild zu schaffen, bedingt durch unsere eigene Lebenserfahrung.

„Der Himmel ist von föhnigem Blau, und das Grün des Laubes, der Wiesen heftig und fett mit dem Pinsel aufgetragen. Und ich frage mich an diesem regnerischen Nachmittag, ob ich als Kind vielleicht durch eine Landschaft gewandert bin, die von den Bildern in Großvaters Haus stammte […].“

In 27 Geschichten bringt uns Christian Haller dem Leben wieder näher: Über „Das wunderbar Unbedeutende“, „Lärmige Ausdünstungen“, „Radfahren im Park“, „Kochen mit Goethe“ bis hin zur „ledernen Utopie“ und an den „Rand der weißen Stille“. Haller erzeugt nicht nur gute Unterhaltung, sondern auch Sensibilität für das kleine Detail, die Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensweise und tiefgründige Gedanken. Neben all dem finden sich die ein oder andere Anspielung und intertextuelle Bezüge. Nicht umsonst heißt dieses Buch „Die Stecknadeln des Herrn Nabokov“.

Alexa

Die Stecknadeln des Herrn Nabokov, Christian Haller,
Luchterhand Literaturverlag, 2010

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