Auf der Suche nach der verlorenen Zeit

by Bücherstadt Kurier

Für den Blog zum Lite­ra­tur­fes­ti­val glo­bale° hat sich Stadt­be­su­che­rin Ana­sta­sia Pari­now mit einem gro­ßen Erin­ne­rungs­ro­man über die Shoah beschäf­tigt, näm­lich Ron Segals Debüt „Jeder Tag wie heute“. Dank einer Koope­ra­tion zwi­schen der Uni­ver­si­tät Bre­men, der glo­bale° und dem Bücher­stadt Kurier könnt ihr ihre Rezen­sion nun auch bei uns lesen.

„Wenn dir die Erin­ne­run­gen an Bella ver­blas­sen, kannst du wie­der leben, wagte er mir zu sagen. Ich wusste: Wenn die Erin­ne­run­gen an Bella ende­ten, würde ich meine letzte Geschichte schreiben.“

Adam Schu­ma­cher, deut­scher Jude, Über­le­ben­der der Shoah und Schrift­stel­ler von Welt­rang, kehrt im hohen Alter nach Deutsch­land zurück, um sein letz­tes Buch zu schrei­ben. Die­ses soll ganz sei­ner Ehe­frau und gro­ßen Liebe, der Har­fe­nis­tin Bella, gewid­met sein, die zwar den Holo­caust über­lebt hat, jedoch einem rät­sel­haf­ten Mord vor 20 Jah­ren zum Opfer gefal­len ist.

Ehe er in der Schweiz den beglei­te­ten Frei­tod wählt, will er ihre gemein­same Geschichte, die voll ist von Grau­sam­kei­ten und Trau­mata, für die Ewig­keit fest­hal­ten. Adam lei­det näm­lich an Alz­hei­mer, der ihm Tag für Tag seine Erin­ne­run­gen raubt. Als er eines Tages in sei­ner Jeru­sa­le­mer Woh­nung eine große schwarze Harfe auf­fin­det, meint er, sich in der Woh­nungs­tür geirrt zu haben. Beim wie­der­hol­ten Ein­tre­ten wird ihm klar: „Ich begriff, dass ich Bella zum ers­ten Mal im Leben ver­ges­sen hatte.“ Kur­zer­hand tritt er die Reise nach Mün­chen für sein lite­ra­ri­sches Come­back an. Es beginnt ein Wett­ren­nen gegen die Zeit: Adam ver­sucht gegen den Ver­fall und das Ver­ges­sen anzu­schrei­ben. Mor­gens schon erschei­nen ihm seine Memoi­ren fremd, da die Krank­heit seine nächt­li­chen Schaf­fungs­pro­zesse benebelt.

Beein­dru­cken­des Debüt

Obwohl „Jeder Tag wie heute“ der Debüt­ro­man des 1980 in Israel gebo­re­nen Autoren Ron Segal ist, ver­blüfft er durch sei­nen rei­fen Stil und seine poe­ti­sche Spra­che, die in ihrer Ästhe­tik und Melan­cho­lie eher an alte Meis­ter wie Milan Kun­dera erin­nert. Als ein jun­ger Autor hatte er den Mut sich an ein sehr gro­ßes Thema her­an­zu­wa­gen, an dem sich bereits zahl­rei­che Autor*innen abge­ar­bei­tet haben und zu dem es auf ewig etwas zu sagen geben wird – wobei es schwie­rig ist, glei­cher­ma­ßen adäquat wie inno­va­tiv zu sein.

Der Roman han­delt von Erin­ne­run­gen an die Shoah und deren Auf­ar­bei­tung, aber gleich­zei­tig auch von der Unmög­lich­keit, diese noch klar zu fas­sen, da sie sich in dem alten Gedächt­nis mit Fan­ta­sie und Alb­traum mischen. Aus der Ver­schmel­zung von his­to­ri­schen Fak­ten und kunst­vol­ler Fik­tion ent­steht so ein Roman, der einen ori­gi­nel­len und ange­mes­se­nen Umgang mit der Erin­ne­rung an die Shoah findet.

Die Gene­ra­tion der Zeit­zeu­gen und Opfer stirbt aus und zwi­schen dem moder­nen All­tag der heu­ti­gen Jugend und der Schre­cken des letz­ten Jahr­hun­derts liegt ein gan­zes Uni­ver­sum. Eben diese Distanz spie­gelt Segal durch sein Roman-im-Roman-Kon­zept: Durch diese Dop­pe­lung der Fik­tion hält er fest, was die Shoah für die junge Gene­ra­tion bleibt – eine Samm­lung grau­sa­mer Geschich­ten über Tod und Leid. Nur die Kunst kann diese Geschich­ten ein­fan­gen, ver­ewi­gen und somit als Erin­ne­rungs­me­dium die­nen, selbst nach­dem die letz­ten ech­ten Geschich­ten­er­zäh­ler ver­stummt sind.

Segal macht den Denk­schritt mit, seine Distanz zu den his­to­ri­schen Ereig­nis­sen der Shoah zu reflek­tie­ren, sich somit nicht dem Trug­schluss einer exak­ten Beschrei­bung hin­zu­ge­ben, aber den­noch die Not­wen­dig­keit und Wich­tig­keit der Erin­ne­rung, sowie die Pro­bleme des Erin­nerns in lite­ra­ri­scher Form nie­der­zu­brin­gen. Der Schmerz, egal wie genau er zuge­fügt wurde, ist da und wird immer blei­ben. Segals Roman erhebt kei­nen Anspruch auf his­to­ri­sche Voll­stän­dig­keit, er erschöpft sich nicht in einer Mah­nung, son­dern stimmt ganz leise Töne an. Am Ende ste­hen weder Fak­ten noch eine Wahr­heit, son­dern Frag­mente eines Lebens und der dun­kels­ten Epo­che der Menschheit.

Jeder Tag wie heute. Ron Segal. Aus dem Hebräi­schen von Ruth Ach­lama. Wall­stein. 2014.

Wie heute – und jeden Tag

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