Arno Geiger

von | 04.06.2015 | Buchpranger, Im Interview, Stadtgespräch

Ich denke, jeder Mensch ist allenfalls vergleichbar mit einem Buch von 100.000 Seiten, voller Widersprüche und Wiederholungen, praktisch unlesbar.

Nachdem Verseflüsterin Silvia von Arno Geigers Lesung zu „Selbstporträt mit Flusspferd“ so begeistert war, wollte sie unbedingt mehr wissen und unterhielt sich mit ihm über sein jüngstes Buch und übers Schreiben.

BK: Das Zwergflusspferd wirkt wie die einzige Konstante in Julians Leben, der einzige Ruhepol. Ist diese Suche nach dem eigenen Platz in der Welt für Sie etwas Typisches des jungen Erwachsenenalters? Beziehungsweise haben Sie das Gefühl, Ihren Platz in der Welt gefunden zu haben?

AG: Die allermeisten jungen Menschen stehen mehr oder weniger beunruhigt vor dem Problem, dass sie versuchen müssen, ihren Platz in einer Gesellschaft zu finden, die diesen Platz nicht zwingend einräumen will. Das ist eine Konstante, die im Raum stehende Frage: Was erwartet die Gesellschaft von mir? Was muss ich tun, um besser anzukommen? Ankommen im doppeldeutigen Sinn, von wegen, wie kann ich anderen gefallen, und im Sinne von, die Reise ist beendet, wenn ich meinen Platz gefunden habe. – Ich selber besitze im Moment etwas sehr Wertvolles, innere und äußere Stabilität. Aber ich weiß auch, dass wir immer versuchen, unser Leben in eine bestimmte Form zu bringen – und das Leben zerbricht diese Form, von heute auf morgen.

BK: Ein Autor ist einem Schauspieler nicht so unähnlich: Er muss sich ebenso in die verschiedensten Personen hineinversetzen können, damit diese möglichst authentisch wirken. Nehmen Sie dazu eigene Erfahrungen, eigene Charaktereigenschaften, beziehungsweise Menschen aus ihrem Umfeld zur Hilfe?

AG: Was das Allgemeine betrifft, das Jungsein, wie man ins Leben hineingestellt ist, plötzlich eigenverantwortlich, mit der lang ersehnten Freiheit, aber doch auch überfordert von dieser Freiheit – das kenne ich von mir selber, das hat Allgemeingültigkeit. Und wenn man in eine bestimmte Richtung hin aufmerksam ist, dann arbeitet der Zufall für einen. Wenn der Fokus eingestellt ist, dann fällt mir hier etwas auf und dort etwas. Dann suche ich die Gegenwart von jungen Menschen und bin viel sensibler für Nuancen. Und ich versuche dann, die Welt in dieser Epoche zu deuten, sie vom Standpunkt des jungen Menschen emotional zu erfassen. Und in diesem Prozess entfaltet sich der Stoff. – Diese Erfahrung habe ich immer wieder gemacht: Je mehr ich mich mit etwas beschäftige, desto interessanter wird es.

BK: Julians Leben, seine Gedanken, sind gekennzeichnet durch Unbestimmtheit, durch die „ernste“ Seite des Erwachsenwerdens; sein Freund Tibor hingegen weist diese anziehende, teilweise aber auch problematische Leichtigkeit auf. Mit welchem der beiden konnten Sie sich beim Schreiben leichter identifizieren?

AG: Ich fühle mich Julian verwandter, emotional, dieser Person, ein wenig verloren, ernsthaft, unsicher. Verlorenheit ist für mich ein großes Thema, grad auch in diesem Alter. In diesem Alter ist man ungleich verlorener als Menschen, die zehn Jahre älter sind. Und dann… das Gefühl, wie es war, auf eigenen Beinen zu stehen… ahh, das fand ich toll! Dorthin hatte ich mich gesehnt, schon sehr lange. Ich wollte mein eigener Herr sein, über mich selbst bestimmen dürfen. Und gleichzeitig hatte ich wie Julian Angst, alles falsch zu machen. „Ich bekomm das nicht hin. Ich bekomme das überhaupt nicht so hin, wie ich mir das vorgestellt habe!“
Tibor wiederum… ich denke, jeder junge Mensch, auch jede junge Frau, hat einen solchen Freund oder eine solche Freundin: einen Menschen, der alles leichter nimmt, an dem die Schrecken der Welt abprallen. Davon geht eine große Anziehungskraft aus. Julian spürt, dass ihm Tibor in mancher Hinsicht etwas voraus hat. Und umgekehrt. Aber zunehmend spürt Julian auch, dass seine eigenen Talente, soziale Talente, ein vielleicht noch größeres Geschenk sind als Tibors Leichtigkeit.

BK: Julians Erwachsenwerden wird erschwert durch Schreckensnachrichten aus aller Welt. So entsteht das Bild einer „schlechten“ Welt, einer „sich selbst zugrunde richtenden“. Haben Sie das in Ihrer Jugendzeit auch so empfunden beziehungsweise wie sehen Sie das jetzt?

AG: Als ich zweiundzwanzig war, 1990, unmittelbar nach Ende des Kalten Krieges und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, herrschte Aufbruchstimmung, ein bisschen hatte ich damals das Gefühl, aha, die Welt wird besser. Insofern gehöre ich einer anderen Epoche an. Zum jetzigen Zeitpunkt, als Schriftsteller, der im Heute lebt, hat mich das nicht interessiert. Die Verunsicherung, die heute in der Luft liegt, und dass sehr viele Menschen das Gefühl haben, in einer scheiternden Welt zu leben – das betrifft mich ja auch selber. Wenn jemand zudem noch jung ist, also in einem Lebensalter der Verunsicherung, hineingestellt in eine verunsicherte Welt – ich fand, darüber will ich schreiben.
Die Generation der sogenannten 68er zum Beispiel war extrem zukunftsgläubig, insgesamt zuversichtlich, auf dem emotionalen Standpunkt: Die Welt gehört uns! – Da kann ich rückblickend nur lachen. Wir wissen alle, die Welt wird uns nicht gehören. Und so, wie sie ist, wollen sie auch die wenigsten. – In meinen Augen sind das mehr als nur feine Unterschiede.

BK: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen? Welches sind Ihre großen Vorbilder?

AG: Ich habe mein Talent nie „entdeckt“. Es hat mich ganz beiläufig zur Sprache und zum Schreiben hingezogen, schon als Kind. Schreiben ist etwas, das meinem Naturell entspricht, also vielmehr eine Leidenschaft als ein Talent.
Vorbilder habe ich keine. Es gibt viele Autorinnen und Autoren, die ich bewundere, aber ich bin mir dessen bewusst, dass ich sie auch deshalb bewundere, weil sie eigenständige Künstler sind. Also mache ich als Künstler meine Sache, halte mich von Vorbildern fern, und das Urteil über meine Arbeit sollen andere sprechen.

BK: Gibt es einen Ort, an dem Sie besonders gerne schreiben?

AG: In der Küche. Ich schreibe fast ausschließlich in der Küche. Ob in meinem Elternhaus in Vorarlberg oder in Wien, in der Küche fühle ich mich beim Arbeiten am wohlsten.

BK: Und noch eine letzte Frage: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Buch. Welches wären Sie?

AG: Ich denke, jeder Mensch ist allenfalls vergleichbar mit einem Buch von 100.000 Seiten, voller Widersprüche und Wiederholungen, praktisch unlesbar. Solche Bücher gibt es nicht. Am nächsten kommen dem vielleicht Bücher wie „Ulysses“ von James Joyce. „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Aber ich fände es auch schön, ein Buch zu sein, das nur von Wenigen gelesen wird.

Foto: Heribert Corn

[tds_note]Zum Bericht über die Lesung von Arno Geiger gelangt ihr hier.[/tds_note]

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3 Kommentare

  1. Avatar

    Hallo 🙂
    Ich habe gerade „Selbstporträt mit Flusspferd“ beendet und befinde mich in dieser Leere, die ich immer empfinde, wenn ich ein wirklich gutes Buch beendet habe. Und dann bin ich hier gelandet. Bei deinem wunderbaren Interview mit Arno Geiger. Ich höre noch immer seine Stimme, denn ich hatte ebenfalls das Glück eine Lesung von ihm zu sehen. Sogar zwei. Ich bin im quasi auf der Leipziger Buchmesse hinterhergelaufen. 😀
    Liebe Grüße
    Jule

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    • Bücherstadt Kurier

      Liebe Jule,
      vielen Dank für deinen Kommentar und das Kompliment! Wie man sicher bereits gemerkt hat, bin ich ein Riesen-Fan von Arno Geiger. Ich habe ihn auch auf der Buchmesse gehört, schon zum zweiten Mal dieses Jahr. Hast du auch andere Bücher von ihm gelesen?
      Liebe Grüße, Silvia

      Antworten
      • Avatar

        Liebe Silvia,
        leider nein. Ich hatte schon viel von ihm gehört und war dann froh ihn auf der Buchmesse mal sehen und hören zu können. Natürlich habe ich mir dann gleich das Flusspferd gekauft und finde dieses Buch wunderbar.
        Liebe Grüße
        Jule

        Antworten

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