Adventskalender 2018: Türchen 6

von | 06.12.2018 | #litkalender, Kreativlabor

Waldgeists warnende Worte

Eine grobe Vereinfachung

Es dämmerte blutig über den Hängen des großen Berges, die Luft klirrte und zitterte in Erwartung einer frostigen Herbstnacht, als die Jäger des Stammes zu den Höhlen hinter der hohen Wasserwand heimkehrten, drei Eber über die Schultern geworfen. Die Jäger waren eine Woche lang durch die weiten Ausläufer des großen Waldes und fast bis ans Ende der Welt gezogen, dort wo das Land ins Dunkel einer Schlucht brach und wo die Toten lebten, weil der Stamm sie dort hinunterwarf, und hatte schließlich reiche Beute gemacht. Ihre Knochen, ihre Muskeln, überhaupt alles schmerzte und sie begrüßten die heimatliche Höhle mit einem Ausruf der Begeisterung. Die Kinder waren die ersten, die zu ihrer Begrüßung hervorkamen. Sie liefen am Ufer des Teiches entlang und sprangen durcheinanderrufend um ihre Väter.

Die Frauen des Stammes warteten am aufgerissenen Maul der Höhle. Auch sie begrüßten die Jäger und reichten ihnen Beeren und Wasser. Von den Jägern war einer nicht mit den anderen zurückgekehrt. Die Schlucht habe ihn genommen. Der Geist des Waldes hatte sein Leben gefordert und ihnen dafür drei Eber geschenkt, aber das wussten sie nicht, denn sie wussten nichts von irgendeinem Waldgeist, so etwas gab es für sie nicht. Sie erzählten den Frauen, dass er gefallen sei und sich den Kopf angeschlagen habe und sie begannen zu klagen und zu singen. Ihre Schreie hallten bis zur hohen Höhlendecke und brachen sich, kamen zurück und schmerzten im Ohr. Die Jäger ließen die klagenden Weiber zurück. Um einen gefallenen Jäger solle man nicht derartig weinen. Ein Held, ein Mann musste nicht beweint, er musste gefeiert werden. Sie machten ein Feuer am jenseitigen Ufer des Teiches und setzten sich im Kreis herum.

Die Jäger und die zum Schutz der Höhle zurückgebliebenen Männer begannen, sich Geschichten zu erzählen. Ein Bär habe sich den Kindern genähert und die Frauen, man kenne sie ja, seien hysterisch und gänzlich hilflos gewesen, doch er, der Wächter, habe kühlen Kopf behalten und den Bären mit nichts als einem Stein verjagt. Genau zwischen die Augen habe er ihn getroffen. Dieser Bär würde sich nicht wieder sehen lassen. Eine der Frauen war ihm besonders dankbar gewesen, wenn sie wüssten was er meinte. Sie wussten es natürlich. Sie tranken vergorenen Honig und es wurde gänzlich finster um das Feuer.

Am Eingang der Höhle unterhielten sich die Frauen erbost. Die Männer konnten sie vom Feuer aus hören und sagten zueinander, dass sie schon wieder schnatterten und lachten über sie. Schließlich kam die Frau des Häuptlings um den Teich. Sie stampfte und bewegte sich zackig, um den Männern gleich ihren Zorn zu zeigen. Ihre Augen unterstrichen ihre Botschaft. Ob sie denn nicht womöglich etwas Zeit mit den Frauen in der Höhle verbringen wollten. Sie hätten mit ihnen zu reden. Sie müssten ihnen einiges erzählen und erklären und überhaupt hätten sie sich doch wohl schon eine Weile nicht mehr gesehen. Wir kommen schon noch zu euch. Der Häuptling lachte. Er war der Größte unter den Jägern. Seine Faust hatte schon so manches Tier erschlagen. Einmal hatte er, davon wusste er stets zu erzählen, eine Bärin mitsamt ihrer Jungen mit bloßen Händen erlegt. Das Fell trug er immer noch um die Schultern. Er wies seiner Frau zu gehen und die Jäger sahen sich kichernd über das Feuer hinweg an, doch anstatt sich zurückzuziehen, winkte die Frau den anderen, die sich nun lautstark schimpfend um ihre Männer am Feuer scharten, die augenblicklich kapitulierten.

Der Stamm zerstreute sich. Man teilte sich rund um das Wasser in kleine Grüppchen auf und die Frauen erzählten ihren Männern, was alles, aus ihrer Sicht, in ihrer Abwesenheit geschehen war. Einer der Beschützer habe einen Bären provoziert und die Kinder in Gefahr gebracht. Zum Glück habe man die Kinder rechtzeitig in die Höhle bringen können. Die Männer wussten es natürlich besser, denn sie kannten schließlich schon den wahren Hergang der Geschichte, doch sie sagten nichts. Sie nickten. So etwas, da müsse man mal mit dem Beschützer sprechen, das ginge natürlich nicht.

Von Minute zu Minute verdunkelten sich die Mienen der Jäger und ihre Augen nahmen einen Ausdruck dunkler Resignation an. Sie hörten kaum noch zu. Die Geschichten über Dinge, die sie weder betrafen noch interessierten, waren ihnen unmöglich zu folgen. Die Frau des Häuptlings erzählte, die Frau des Beschützers habe sich beim Wasserholen vorgedrängt und dann habe sie noch zu einer Freundin gesagt, sie habe es nicht getan und überhaupt spräche sie zu viel mit dieser Freundin, denn die sei ja eigentlich ihre Vertraute und dann, und das, und wieso, und überhaupt und so weiter.

Der Häuptling verlor die Nerven. Er packte sein Bärenfell und lief davon in den Wald. Er rannte, sprang über Steine und in die Dunkelheit, wo die Kiefern so alt waren, dass sie hundert Meter über ihm den Blick auf die Sterne verstellten. Irgendwann hielt er inne und kniete sich hin. Inmitten eines weiten Rings moosbewachsener Findlinge, den sein Vater und dessen Vater vor ihm gezogen hatten, holte er Atem. Sie hatten diese Felsen aus den Hängen gebrochen und hierher in den Wald gerollt und hatten in den Kreis ein Muster kleinerer Steine gemalt, weil sie genug zu essen hatten und ihnen langweilig war. Sie hatten Zeit gehabt und fanden den Kreis schön, als er fertig war. Dann kehrten sie zur Höhle zurück und vergaßen.

Der Häuptling genoss die Stille des Waldes. Er genoss die Ruhe und Einsamkeit so sehr, dass er sich die ganze Nacht nicht mehr erhob, sondern auf der Stelle sitzen blieb. In der Menschenleere begann er eine Stimme zu vernehmen, doch niemand sprach. Die Stimme kam aus seinem Kopf und es war seine eigene. Sie sprach, erzählte, führte Dinge aus, lachte, weinte – er dachte nach. Er hatte noch nie auf diese Weise nachgedacht. Und als er es tat, die ganze Nacht denken, kam ihm ein Gedanke, der stärker war als die anderen. Wie schön wäre es gewesen, einfach mit den anderen Jägern und den Beschützern die ganze Nacht am Feuer zu sitzen und zu lachen.

Das war aber noch nicht alles, was er dachte – wie schön wäre es, wenn die Frauen einfach mal einen Tag lang den Mund halten könnten. War er nicht der Häuptling, ein großer Mann, und war er ihnen nicht körperlich überlegen? Er war sich dessen sicher. So sicher, wie ein Mann, der in den letzten Wochen einige schwere Schläge gegen den Schädel erhalten hatte, sich irgendetwas sicher sein konnte. So deutlich hatte er die Stimme in seinem Kopf noch nie vernommen, beinahe als ob jemand von außen, etwa zwischen den Stämmen und Findlingen, mit ihm spreche, mit seiner Stimme.

Ein Geist des Waldes. Ja fast wie ein Geist. Das Wort Geist fiel ihm ein und er gab ihm eine Bedeutung. Waldgeist. Der Herr des Waldes. Der, dem alles hier gehörte, der sie erschaffen hatte, gemeinsam mit seiner Frau der Sonne, die stumm Wärme schenkte und sich des Nachts zurückzog, um dem wachenden, blinzelnden Auge ihres Bruders Mond Platz zu schaffen. Und wäre es nicht toll, würde der Waldgeist mit ihm sprechen und ihm sagen, was er zu tun hatte. Wäre es nicht fantastisch, wenn er ihm sagen würde, welche Regeln für alle im Stamm zu gelten hätten. Ja das wäre grandios.

Somit stieg er am Morgen aus dem Wald, wieder hinauf zur Höhle und erklärte dem versammelten Stamm, was der Waldgeist ihm mitgeteilt habe. Er öffnete mit einigen kleineren Regeln, Kleinigkeiten, die ihm das Regieren erleichtern sollten und überhaupt die Organisation des Stammes regelten, doch als er das Gefühl hatte, genug um den heißen Brei herumgesprochen zu haben, kam er zum wichtigsten Punkt. Frauen sei es von nun an nicht mehr erlaubt, nach Sonnenuntergang die Höhle weiter als bis zum Wasserfall hin zu verlassen. Am Tag hatten sie den Häuptling zu fragen, ob sie fortgehen durften, damit dieser den Waldgeist darum bitten konnte. Wenn sich eine Frau vom heutigen Tag an nicht an diese Regel hielte, dann würde die Sonne nicht mehr über den Horizont steigen, das Wasser des Teiches rot wie Blut werden und Wölfe würden vom Berg her über das Land ziehen, um die Rache des Waldgeists an den Kindern des Stammes zu vollziehen. Außerdem würde bei jedem Schritt, den eine Frau des Nachts außerhalb der Höhle täte, ein Stück Land in den schwarzen Abgrund am Ende der Welt brechen. Die Frauen sprangen entsetzt ein Stück zurück in die Höhle und ein beunruhigtes Raunen zog durch die Versammlung. Sie hatten Fragen, sie hatten Ängste und scharten sich nun enger als je zuvor um ihren Häuptling, um Antworten zu erhalten und Schutz.

Von nun an verschwand der Häuptling einmal in der Woche in den Wald, um mit dem Geist zu sprechen und der Geist erzählte ihm von jeder Übertretung seiner Gesetze. In Wahrheit traf er sich im Steinkreis mit dem Beschützer, einem guten Freund und Vertrauten, der einen Bären mit nichts als einem Stein vertrieben hatte, der stets ein Auge auf alles hatte, was in und um die Höhle vor sich ging. Er war auch der Einzige, den der Häuptling in seine grandiose Idee einweihte.

Gemeinsam begannen sie, die Geschichte um den Geist, die Sonne und den Mond zu verdichten und nach einem Jahr zogen sie zwei weitere Mitglieder des Stammes hinzu. Einmal in der Woche wurde ein Gruppengebet für alle organisiert. Die Eingeweihten pickten sich derweil das Beste aus den Speisekammern und brachten es in den Wald, um es dem Geist zu opfern. Sie speisten und lachten und dachten nach, auch wenn es nun nicht mehr so still war. Sie beglückwünschten sich für ihre Ideen. Die Hohepriester feierten ein Fest.

Codejäger Peter

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

1 Kommentar

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    Religionskritik der besonderen Art. Das dürfte sich allerdings in früherer Zeit noch nicht so abgespielt haben, ist eher eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts. Nicht nur mir fallen da auf Anhieb zwei ganz bestimmte Beispiele ein … Ansonsten gilt: Man sollte aus den Fehltritten des schwachen „Bodenpersonals“, das Glauben und Religion verrät und pervertiert (wo auch immer) nicht allzu voreilige Schlüsse ziehen.
    „Does anybody know what we are living for?“ (Queen, „The Show must go on“) ist tatsächlich der springende Punkt – das scheinheilige Fressen auf Kosten der anderen ist garantiert nicht der Sinn des Lebens. Kreative wie Gaudi oder Bach haben ein anderes Verständis von Religion gehabt und Erhabenes geschaffen, Gandhi hatte auch anderes im Sinn, ebenso wie die z.B. die Amish.

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