Adventskalender 2018: Türchen 21

von | 21.12.2018 | #litkalender, Kreativlabor

Liebe Buchfinken,

ich möchte Ihnen von der Vorweihnachtszeit berichten, an die ich mich gut erinnern kann, obwohl ich erst drei Jahre alt war. Mein Vater war zu dieser Zeit als Soldat an der Front und meine Mutter hatte große Angst um ihn. Sie trug ein Kettchen aus Gold mit einem kleinen Anhänger, auf dessen Vorderseite zwei nachdenkliche kleine Engel zu sehen waren. Auf der Rückseite stand die Inschrift: „Viel Glück!“
Diese Kette nahm meine Mutter nie ab. Sie behauptete: Die beiden Kleinen sind meine Schutzengel. Sie hatte diese Kette von ihrer Patentante bekommen; sie war seitdem ihr Begleiter – bis zu dem Tag, an dem in der großen Küche Hektik ausbrach.
Ein Paket für meinen Vater sollte am nächsten Tag auf Reisen gehen. Der Großvater kramte im Keller nach einem besonders guten Tropfen und die Oma suchte einen warmen Schal und warme Handschuhe. Draußen hatte es geschneit und ein frostiger Winter kündigte sich an.
Aber hier in der warmen Küche war es gemütlich. Außerdem duftete es ganz wunderbar. Mutter hatte einen Kuchen für meinen Vater gebacken und jetzt waren die Plätzchen an der Reihe. Was für eine Aktion: Großvater feuerte den großen Küchenherd an, bis er bollerte. Die Frauen liefen hin und her und gaben sich gegenseitig gute Ratschläge. Jetzt durfte ich Plätzchen ausstechen. Ich legte sie auf das Blech und meine Mutter trieb mich zur Eile an: „Wenn der Kuchen aus dem Rohr kommt, dann kommen deine Plätzchen hinein. Tempo, Tempo!“
Der Kuchen kam aus dem Ofen und duftete herrlich. Natürlich durfte ich nicht daran naschen – das war verboten! Mutter kam, um das Backblech zu holen. „Du bist ja immer noch nicht fertig, das Christkind wird kommen und du stichst immer noch Plätzchen aus!“
Mama beugte sich zu mir herab, um mir zu helfen, und schob das Blech in den Ofen. Da sah ich, dass sie ihr Kettchen nicht mehr trug. Es war als hätte der Blitz eingeschlagen. Großvater rief: „Will denn niemand nach den Plätzchen gucken?“ Aber die Frauen waren erstarrt. Großvater musste selber darauf aufpassen.
Wo war das Kettchen? Panik griff um sich und alle suchten die Küche danach ab. Schließlich klärte Mama das Rätsel auf: Sie hatte es abgenommen, um es mit in das Paket zu geben. Es sollte meinem Vater genauso Glück bringen wie ihr. Leider blieb es für immer verschwunden. Das war ein böses Omen und es war vorbei mit einer fröhlichen Weihnachtszeit … Bis zu dem Tag, als ein Brief von der Front kam und mein Vater den guten Kuchen lobte:
„Ein wirklich guter Kuchen, aber warum habt ihr das Goldkettchen mit hinein gebacken? Ich habe den Kuchen angeschnitten und da war das Kettchen. Beinahe hätte ich es zerschnitten.“
Meine Mutter weinte vor Erleichterung. Das war die Kriegsweihnacht 1943. Meinen Vater haben die Schutzengel auch gut bewacht. Er kam 1945 wieder zu uns zurück.

Viele Grüße,
Dorothea

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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