Adventskalender 2016: Türchen 9

von | 09.12.2016 | #litkalender, Kreativlabor

Der Winterprinz

Es war einmal ein weit entferntes Königreich, in dem lebte eine Prinzessin. Eines Wintertages traf sie auf ihrem Spaziergang einen jungen Mann. Sein dicker Mantel reichte bis zum Boden und war so schwarz wie sein Haar. Seine Augen aber waren von einem strahlenden Blau und seine Haut weiß wie der Schnee, der um ihn herum dichter zu fallen schien.
„Wer bist du und was machst du hier in meinem Königreich?“, verlangte die Prinzessin zu wissen.
Der junge Mann zuckte mit den Schultern. „Ich bin der, den ihr durchwandelt und mein trauriges Königreich ist, wo immer ich bin.“
„Wie kann ein Königreich traurig sein?“, fragte die Prinzessin verwundert.
Er antwortete: „Mein Königreich ist traurig, weil niemand außer mir darin lebt.“
Die Worte des jungen Mannes gingen der Prinzessin nah und so wagte sie es, ihn anzulächeln. Als sich ihre Blicke trafen, verliebte sich der junge Mann unsterblich in die Prinzessin, denn er hatte hinter ihrem hochmütigen Wesen ihr gutes Herz erkannt. Ebenso verliebte sich die Prinzessin unsterblich in den jungen Mann, denn sie erahnte die Güte und Wärme hinter seinem abweisenden Verhalten.

Der Vater der Prinzessin jedoch wollte seine Tochter mit einem reichen Prinz aus dem Nachbarland verheiraten, so war es schon vor langer Zeit zwischen den Königen der beiden Länder vereinbart worden. In ihrer Verzweiflung flohen die Liebenden. Der König befahl sofort seinen Soldaten, seine Tochter wieder nach Hause zu holen. Ihren Geliebten aber verfluchte er, auf dass dieser nie wieder einen Fuß in sein Königreich setzen könne.

Die Prinzessin und der junge Mann flüchteten viele Tage lang. Winterstürme zwangen ihren Verfolgern den Schnee und das Eis ins Gesicht, so dass diese schließlich umkehren mussten. Doch auch nachdem sich der letzte Sturm gelegt hatte, waren Schnee und Eis die stummen Begleiter der Liebenden, und die Prinzessin wurde von Tag zu Tag blasser und zitterte oft vor Kälte.
Endlich fanden sie in einem weit entfernten Land Zuflucht in einem Gasthaus. Längst hatte der junge Mann die Prinzessin zur Frau genommen und als die Stunde ihrer Niederkunft nahte, führte er sie hinauf in ihr Zimmer.
Dort entfachte der junge Mann ein Feuer und sagte: „Wenn ich es schon nicht vermag, dich zu wärmen, Liebste, so wird es dieses Feuer tun.“
Da nahm die Prinzessin seine Hand und sagte: „Liebster, ich weiß, dass du der Winter bist!“
Der junge Mann erschrak sehr, hatte er doch gedacht, sein Geheimnis wohl gehütet zu haben!
Doch die Prinzessin sah ihn voller Glück an. „Meine Liebe zu dir brennt so stark, dass mir deine Kälte nichts ausmacht. Aber dir wird ein Feuer nicht wohl tun, also lösche es.“
Doch der Winter sorgte sich zu sehr um sie und das ungeborene Kind und ließ das Feuer brennen.

adventskalender_2016-9Als das Kind schließlich das Licht der Welt erblickte, hatte es die schneeweiße Haut seines Vaters und die grünen Augen seiner Mutter. Voller Dankbarkeit und Liebe küsste der Winter seine Frau und seinen Sohn und fühlte nichts als reine Freude und Glück. Dann hüllte er die Prinzessin und das Neugeborene in seinen schwarzen Mantel, denn obschon im Kamin ein hohes Feuer knisterte und knackte, blieb es im Raum eiskalt. Wie könnte es auch anders sein mit dem Winter darin? Da erkannte er, dass er seine Frau und das Kind verlassen musste, wollte er ihnen nicht den Kältetod bringen.

Er wollte seiner jungen Frau gerade Lebewohl sagen, als er ihre bleichen Wangen und ihre geschlossenen Augen sah. Auch das Kind lag mucksmäuschenstill da und der Winter erkannte, dass er seinen Entschluss zu spät gefasst hatte und alles schon verloren war.
Aus seinen Augen rannen gefrorene Tränen und aus seinen Fingerspitzen quollen Eiszapfen, die er wütend von sich schleuderte. Dann verließ er den Gasthof und nahm Sturm, Schnee und Kälte mit sich fort.

Mit Menschen unerfahren hatte der Winter nicht bemerkt, dass die Prinzessin nur eingeschlafen war, denn die Geburt hatte sie sehr geschwächt. Ebenso war auch das Kind tief eingeschlafen, wohlig und sicher, das Bäuchlein voll süßer, warmer Milch. Als die Prinzessin am nächsten Tag erwachte, lag ihr Kind rosig und munter neben ihr. Nichtsahnend rief sie nach ihrem Mann, doch er kam nicht.
Sie weinte drei Wochen lang und hoffte, der Winter möge zu ihr zurückkehren; doch als die Frühlingsblumen blühten, wusste sie, es war vergebens. Die Prinzessin nahm ihr Kind und zog mit ihm in ein kleines Dorf, wo sie sich fortan als Dienstmagd verdingte, denn sie hatten sonst keinen Platz auf der Welt.

Als das Kind heranwuchs und immer wieder nach seiner Familie fragte, wuchs auch die Sehnsucht der Prinzessin und sie nahm ihr Kind und machte sich auf den langen Weg nach Hause.
Längst hatte der König seiner ältesten Tochter verziehen und längst hatte seine jüngere Tochter den Prinzen des Nachbarlandes geheiratet und sie waren einander in Liebe und Freundschaft zugetan.
Dem Land aber war es schlecht ergangen: Seit der König den Winter verflucht hatte, war dieser nicht mehr gesehen worden. Erst hatten die Leute gelacht und gesagt: „Wer braucht schon den Winter?“ und sich gefreut, kaum mehr Feuerholz schlagen zu müssen, dass ihnen nicht mehr die Kälte in die Knochen fuhr und dass ihnen nicht mehr die Boote auf dem See einfroren. Die Kaufleute hatten gejubelt, dass sie das ganze Jahr über Markt halten konnten und die Soldaten, dass sie nicht mehr bei Schnee und Sturm Wachdienst tun mussten.

Dann hatte das erste Jahr ohne Winter begonnen und die Leute hatten schnell gemerkt, dass die Bäume weniger Früchte trugen, das Getreide spärlicher wuchs und die Beeren an den Büschen ausblieben. Auch gab es von Jahr zu Jahr weniger Lämmer, Kälber und Zicklein und vielerorts verendeten Tiere. Da hatte es den Menschen langsam gedämmert, dass sie den Winter brauchten. Denn Neues kann nur entstehen, wenn Altes geht und Junges Zeit hat, sich zu erholen. Aber daran hatte der König natürlich nicht gedacht, als er voller Wut den Winter verbannt hatte.
Weil der König ein guter König war, überwand er seinen Stolz und ging Jahr für Jahr hinaus zum Fluss und flehte dort auf Knien den Winter an, er möge zurückkommen. Doch der Winter war vor Kummer taub für die Bitten anderer geworden und blieb stumm.

So litten die Menschen des Königreichs Hunger und Not, als die Prinzessin mit ihrem Sohn nach Hause kam. Dennoch freuten sie sich und jubelten ihr zu.
Das Herz der Prinzessin pochte wild, als sie vor ihren Vater trat, wusste sie doch nicht, ob er ihr je verziehen hatte! Doch kaum, dass er sie sah, rannte der König auf seine älteste Tochter zu und drückte sie an sein Herz. Aller Groll war vergessen und mit den letzten Leckerbissen, die die königlichen Speisekammern noch hergaben, feierten sie ein großes Fest, zu dem jeder eingeladen war. Der Sohn der Prinzessin saß dabei die ganze Zeit auf dem Schoß seines Großvaters, umringt von seiner Großmutter, der Tante, dem Onkel und sage und schreibe acht Cousins und Cousinen und strahlte voll seligen Glücks.

Am nächsten Tag bat der König seine Tochter, nach ihrem Gemahl, dem Winter, zu rufen. Doch auch die Bemühungen der Prinzessin blieben vergebens. Denn der Winter war fest davon überzeugt, dass ihm die Stimme seiner Liebsten nur im Traum erschienen war und blieb stumm.
Da fügten sich der König und mit ihm seine Untertanen in ihr Schicksal: Die Vorräte aus guten Zeiten waren fast zur Gänze aufgebraucht und nun, da nicht einmal die Prinzessin ihren Mann zu rufen vermochte, gab es keine Hoffnung mehr. Viele Menschen packten ihre Sachen und machten sich auf die Suche nach einem besseren Leben.
Der König ließ sie ziehen, denn er war ein guter König und wünschte seinem Volk nur das Beste.

Dann geschah etwas Merkwürdiges: Inmitten des Frühlings, der nun auf den Herbst folgte, fand die Prinzessin eine Eisblume an der Fensterscheibe ihres Gemachs.
„Wie kommt diese Eisblume hierher?“, fragte sie sich mit klopfendem Herzen. War ihr Mann etwa endlich zu ihr zurückgekehrt?
„Das war ich, Mama“, erklang die Stimme ihres Sohnes. „Ich habe die Eisblume gemacht! Sag, Mama, ist sie nicht wunderschön?“
Die Prinzessin nahm ihr Kind und drückte es an ihr Herz und weinte vor Sehnsucht und Kummer, denn sie vermisste ihren Mann noch immer.

Auch dem Winter war es schlecht ergangen. Fast wahnsinnig vor Trauer – er dachte ja, seine geliebte Frau und seinen Sohn getötet zu haben – war sein Herz immer mehr zu Eis geworden. Er wütete und tobte in den Landen, die er noch besuchte, und ließ dort die schlimmsten Schneestürme und die kältesten Eisregen toben. Schon lange hatte er sich keine neuen Schneeflocken mehr ausgedacht oder Eisblumen an die Fenster der Menschen gemalt.
Umso erstaunter war er, als er eines Tage auf seinem Weg durch die Welt in der Ferne eine Eisblume funkeln sah. Verwundert ging er näher und näher, bis er an die Grenze zu dem Königreich kam. Durch die Reue des Königs war der Fluch schon längst gebrochen und so konnte der Winter ohne weiteres die Grenze überschreiten. Wie magisch wurde er von der Eisblume angezogen, die so wunderschön war, so einzigartig, so kühn in ihrem Muster und so anmutig zart, dass es ihm die Sprache verschlug.
Als er schließlich vor dem Fenster angelangt war, an dem die Eisblume wuchs, und von außen ehrfürchtig seine Hand darauf legte, legte sich von innen heraus eine kleinere, aber ebenso schneeweiße Hand gegen die Fensterscheibe. Der Winter blickte auf und erkannte seinen Sohn und hinter ihm seine Frau.
Als die Prinzessin ihren Mann sah, rannte sie heraus und fiel ihm um den Hals und er drückte sie fest an sich und ließ sie nie wieder los.

Fortan kam der Winter wieder jedes Jahr in das Königreich und sicherte wieder reiche Sommerernten, und so kehrten auch die Menschen wieder zurück. Der König erklärte den kleinen Winterprinzen zu seinem Nachfolger und dieser lernte fortan unter Anleitung seines Großvaters das Regieren – wenn er nicht gerade unterwegs war und mit seinem Vater Eisblumen an die Fensterscheiben malte.

Monika Loerchner

Monika Loerchner, studierte Religionswissenschaftlerin, lebt mit ihrem Mann und den beiden Söhnen im schönen Sauerland. Erste Schreiberfahrungen sammelte sie bereits zu Schulzeiten als freie Mitarbeiterin einer Tageszeitung. Seit 2015 nimmt sie an Schreibwettbewerben verschiedener Genre teil. Am 1. März 2017 erscheint ihr Debütroman „Hexenherz – Eisiger Zorn“ im Acabus Verlag (bereits vorbestellbar). Autorenblog: monikaloerchnersite.wordpress.com / Monika bei Acabus

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

2 Kommentare

  1. Avatar

    Liebe Bücherstädter!
    Ich freue mich sehr, dass meine Geschichte Eingang in euren wunderschönen Literarischen Adventskalender gefunden hat!
    Liebe Grüße,
    Monika

    Antworten
    • Bücherstadt Kurier

      Liebe Monika,
      und wir freuen uns, dass du mitgemacht hast! Vielleicht nächstes Jahr wieder? 😉 Liebe Grüße!
      Alexa

      Antworten

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