#22. Türchen

von | 22.12.2015 | #litkalender, Kreativlabor

Ein fetter Kerl im roten Kostüm und andere historische Absurditäten2Ein fetter Kerl im roten Kostüm und andere historische Absurditäten

„Erklär mir das nochmal“, beschwerte sich Stanley und versuchte, in dem dunklen Wald etwas zu erkennen, seine Stiefel machten in dem festgefrorenen Schnee knirschende Geräusche. „Es gehört also mit zur Tradition, dass man mit einer vorsintflutlichen Axt auf einem hilflosen Bäumchen rumhackt?“
„Man fällt es“, korrigierte ihn Dan. Der zierliche chinesischstämmige Mann hatte offensichtlich seine liebe Mühe mit der schweren Axt klarzukommen, denn er war etwas ausser Atem. „Du weisst schon, weil das mehr Sinn macht als herumzuhacken.“

Stanley zerzauste verschmitzt sein dunkelblondes Haar, während er Dan dabei beobachtete, wie dieser ausholte und den Stamm der kleinen Fichte mit einem Hieb traktierte. „Komm schon, Junge, das wird nichts! Tradition hin oder her, es gibt effizientere Methoden, einen Baum zu fällen.“
„Okay, okay“, murrte Dan indigniert, als er aufgab. „Mach ihn platt.“
Stanley nahm die Strahlenwaffe von seinem Gürtel, zielte auf das dünne Stämmchen und drückte ab. Ein grelles Aufblitzen des Lasers, das Krachen des zerfetzen Holzes, die Arbeit war getan. Der Geruch nach Ozon stieg ihm in die Nase, während er geblendet die Augen zusammenkniff. „Siehst du, geht auch mit einem Blaster“, kommentierte er trocken.
„Schon“, schmollte Dan, als er den umgefallenen Baum inspizierte. „Das heisst aber noch lange nicht, dass es stilecht ist.“
Er trat seufzend hinzu, konnte sich aber eine weitere Frotzelei nicht verkneifen. „Du bist Pilot, nicht Veranstalter eines Historienevents, benimm dich gefälligst mal so.“
„Ich habe auch Kulturanthropologie studiert“, kam sogleich die Antwort. Dan liess wirklich keine Gelegenheit aus, irgendwas über Sitten und Gebräuche anderer Zeiten oder Orte zu referieren. Er liess es aber ausnahmsweise dabei bewenden, sodass sie sich daran machen konnten, den Baum zu verladen.

Schon bald waren die beiden Männer mit der auf einen Schwebewagen gepackten Tanne bei der Lichtung angelangt, auf der sie ihr Sternenschiff geparkt hatten. Die kantige Silhouette hatte die Dimensionen zweier Einfamilienhäuser und Stanley hätte nicht froher sein können, sie zu sehen. „Home Sweet Home! Bei der Kälte hätte ich mir früher oder später die Zehen abgefroren.“
„Sag mal“, begann Dan zögerlich. Er wartete auf ein zustimmendes Geräusch, ehe er fortfuhr, „hast du eigentlich eine Ahnung, wie viel du über das Wetter rumjammerst für einen, der als Erster Maat eigentlich mein Vorgesetzter wäre?“

Stanley verschluckte sich, unterdrückte ein Lachen und schob den Wagen auf die Laderampe des alten Raumfrachters. „Echt jetzt, du sitzt den ganzen Tag nur auf deinem weichen Pilotensessel und starrst ein paar Hologramme oder die Sterne an – keiner schätzt mehr hart arbeitende Leute wie mich!“
„Hast du dich nicht entschieden, Weltraumschmuggler zu werden, damit du nicht hart arbeiten musst?“, konterte Dan breit grinsend und drückte auf den Schalter, welcher die Laderampe schloss. Eines musste Stanley dem jungen Piloten lassen, er war ziemlich schlagfertig, wenn es darauf ankam. „Hauptsache wir können abheben und müssen uns nicht weiter auf der vermaledeiten Kühltruhe von einem Planeten herumtreiben, weil der Herr einen Baum fällen möchte.“
„Ach, komm schon, wir werden alle unsere Freude daran haben“, meinte Dan versöhnlich ehe er motiviert über die Treppe in Richtung der Brücke davonjoggte. Stanley blieb nichts, ausser fatalistisch zu grummeln und ihm hinterherzuschreiten.

„Koordinaten sind gesetzt, bereit zum Hyperraumsprung“, erklärte Stanley und warf einen Blick auf den leeren Raum vor ihnen – endlich ging ihre Reise weiter. Der Pilot tippe eine auf der Glasplatte der Konsole eingeblendete Taste an; mit einem gequälten Aufheulen des Antriebs sprang der alte Frachter über die Lichtgeschwindigkeit.
Stanley lehnte sich zufrieden auf seinem Sessel zurück. „Okay, erklär mir das nochmal. Wir stehen um drei Uhr nachts auf, wenn alle an Bord noch schlafen, landen mit einem Frachtraum voller illegaler Drogen einfach so nebenbei auf einem Planeten, um ein dämliches Bäumchen zu fällen, nur weil auf der nördlichen Hemisphäre der Erde jetzt Wintersonnenwende ist? Ich habe ehrlich keine Ahnung, wieso ich mich dazu bequatschen lassen habe.“
Der Pilot nickte. „Genau, du hast es erfasst; das ist eine alte Tradition. Keine Ahnung, mit wem das angefangen hat, aber vor tausend Jahren gab es eine grosse Sekte, die dafür gesorgt hat, die Tradition am Leben zu erhalten, weil sie irgendwas Religiöses damit verbunden haben – Christen hiessen die, wenn ich mich recht entsinne. Wichtig ist im Grunde genommen nur, dass man sich einen Baum ins Wohnzimmer stellt, schmückt und sich gegenseitig beschenkt.“
„Ich weiss, dass das viele Leute machen“, konterte Stanley. „Ich frage mich nur, wieso wir jetzt damit anfangen, nur weil unser neuer Pilot besser Innendekorateur geworden wäre. Wir sind Kriminelle, nicht eine bürgerliche Familie, verdammt! Noch eine solche Idee von dir und ich erkläre dich offiziell für genauso gestört wie unsere hauseigene Einbrecherin.“
„Was, Anaata? Erinnere mich nochmal, wieso wir die überhaupt an Bord haben, die treibt mich irgendwann in den Wahnsinn!“
Der Erste Maat gluckste. „Klar, aber sie verdient auch viel Geld, wenn sie etwas ausraubt, und bezahlt ihre Passage. Wenn sie einen an der Klatsche hat, ist das nicht mein Problem.“
„Wer hat einen an der Klatsche, Sunnyboy?“, erklang eine weibliche Stimme hinter ihnen und die beiden Männer fuhren herum. Stanley konnte Anaata erkennen, die in einem gepunkteten Pyjama mit einer Kaffeetasse und einer Zigarette in derselben Hand in den Raum getreten war. Schwungvoll setzte sie sich auf den Schreibtisch.
„Na wer wohl, du“, gab Stanley trocken zurück. Er hatte es längst aufgegeben, seine Meinung vor anderen Leuten zu verbergen und die junge Koreanerin schien sich sowieso nicht sonderlich um seine Ansichten zu scheren. Tatsächlich zuckte sie mit den Schultern, stellte die Kaffeetasse neben sich auf die Tischplatte und kramte eine Mandarine aus ihrem Kimono, wobei sie ihn fast mit der Kippe in Brand setzte.
„Erklär mir bitte mal was“, holte Dan skeptisch aus, „schläfst du auch mal?“
„Sicher, aber nicht in der Nacht, da breche ich normalerweise ein, man muss seinen Biorhythmus an die Arbeit anpassen“, gab sie zurück und spielte mit ihrer Frucht, musterte sie eingehend und fing schliesslich damit an, sie zu schälen. „Die viel wichtigere Frage ist doch, wieso wir eine Tanne im Frachtraum haben. Schmuggelt ihr jetzt auch Bäume oder ist das ein hohles Fake, das voller Konterbande ist?“ Sie kicherte und verschluckte sich an ihrem Kaffee. „So wie eine Schmuggler-Pinata?“
Stanley schüttelte den Kopf. „Nein, unser werter Dan will unbedingt Mittwinter feiern.“
Sie biss herzhaft in die Mandarine, ohne sich die Mühe zu machen, einen Schnitz herauszunehmen. „Das Fest, wo man einen Baum abfackelt und Leuten Zeug schenkt?“
„Man macht eine Lichterkette dran“, korrigierte Stanley augenrollend. Mit einem Mal hellte sich seine Miene auf und er stupste Dan an. „Hey, erzähl ihr von dem fetten Kerl im roten Kostüm, das wird lustig!“
„Was?“, wollte Anaata nun neugierig geworden wissen. „Hat unser Mechaniker einen roten Overall gekauft?“
„Der ist nicht fett, nur etwas untersetzt, also sei still und hör mir zu“, verteidigte Dan den abwesenden Kameraden, bevor er in seiner besten Märchenerzählerstimme ansetzte: „Früher, vor langer Zeit, war es Brauch, den Kindern zu erzählen, ihre Mittwinter-Geschenke würden von einem schwer adipösen Mann mit weissem Bart gebracht, der sich Nikolaus nennt, mit seinem Schlitten durch die Winternacht fliegt …“
„Schlitten?“, unterbrach Anaata die Erzählung. „Du meinst Hovercraft, oder?“
„Nein, ein fliegender Schlitten, der von Rentieren gezogen wird …“
Die Diebin wetterte sogleich wieder los: „Halt mal, willst du mich für dumm verkaufen?! Rentiere fliegen nicht, das weiss doch nun wirklich jeder. Ausserdem würde der fette Typ in der Atmosphäre verglühen, wenn er so schnell sein muss, in einer Nacht alle Geschenke auszuliefern! Jedes Kind würde auf Anhieb begreifen, dass so etwas physikalisch nicht möglich ist und dahinter ein industrielles Nikolausen-Konglomerat oder eine Weltverschwörung der Erwachsenen vermuten. Echt jetzt, verscheissern kann ich mich selber!“ Damit erhob Anaata sich, warf die Mandarinenschale in den nächsten Müllschlucker und schlurfte von der Brücke. Im Schott wandte sie sich um und meinte mit einem versöhnlichen Augenzwinkern: „Trotzdem ein netter Versuch, Jungs, aber wenn ihr mich veräppeln wollt, müsst ihr euch schon mehr Mühe geben. Okay, ich gehe dann mal allen was klauen, das ich ihnen unter den Baum legen und zurückschenken kann.“ Damit verschwand sie endgültig aus dem Raum.
Kaum war die Tür zugeglitten, brach Stanley in Gelächter aus. „Ich hab‘s dir doch gesagt, sie ist unbezahlbar! Ich will ja nicht wissen, wie sie als Kind gewesen ist, die hätte ich glatt adoptiert!“

„So, ich haue mich mal etwas aufs Ohr, bevor wir den Baum schmücken“, erklärte Dan. Gerade als er die Brücke verlassen wollte, öffnete sich der Schott und eine stämmige, dunkelhäutige Frau, die ausserordentlich verschlafen aussah, trat ein und musterte die beiden Männer. „Sagt mal, habt ihr per Zufall gerade mein Schiff entführt, auf einem Planeten gelandet und eine Tanne geklaut? Sowas nennt man Insubordination!“
Stanley kannte den Captain lange genug, um zu wissen, dass sie es mit Humor nehmen würde und deutete mit dem Daumen auf Dan. „Natala, ich schwöre dir, er hat mich dazu angestiftet!“
Sie liess sich auf den letzten freien Sessel fallen. „Echt jetzt? Wir feiern neuerdings Mittwinter mit einem rituellen Tannenopfer? Das ist ein Sternenschiff, kein verdammtes Forstschutzgebiet, Leute!“
„Ich hab dir doch gesagt, sie wird’s verstehen!“, rief Dan freudig aus, die Einwände des Captains geflissentlich ignorierend. „Ich freue mich schon riesig!“
Natala lehnte sich zurück und nahm einen grossen Schluck von ihrem Kaffee. „Lasst mich raten, ihr wollt auch Plätzchen backen und literweise Eierpunsch bechern?“
Stanley, der sich mit der Idee, ein antikes Fest zu feiern, anzufreunden begann, meinte: „Klar, gute Idee!“
„Und was machen wir, wenn der Baum zu welken beginnt?“, wollte sie wissen.
Dan runzelte kurz die Stirn, dann hellte sich seine Miene auf. „Na was wohl? Wir werfen ihn über einem Planeten aus der Luftschleuse, dann kann er wie der fette Kerl im roten Anzug in der Atmosphäre verglühen. Ho Ho Ho!“

Text und Bild: Sarah

Kurzvita:

Warum die Clue Writer Sarah und Rahel ständig „ss“ statt „ß“ schreiben, fragt ihr sie am besten selbst: www.cluewriting.de, twitter.com/cluewriting. Doch seid gewarnt: die beiden sind verrückt – und das nicht nur, weil sie nach der Weltherrschaft streben!

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

3 Kommentare

  1. Avatar

    Hallo liebe Bücherstädtler,

    vielen Dank für die Veröffentlichung des fetten Kerls im roten Anzug, auch wenn dieser in der Geschichte durch physische Abwesendheit glänzt. Ich finde es wirklich super, dass auch eure Leser erfahren, wie man in ferner Zukunft Weihnachten feiern wird! 🙂

    Für die Clue Writer verneigt sich und grüsst,
    die Sarah

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    • Avatar

      Ich finde das auch super!

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        Danke! ^^ Ganz nach dem Prinzip „Ihr könnt nicht beweisen, dass es nicht so geschehen wird“ berufe ich mich darauf, mit einer prophetischen Gabe gesegnet zu sein, die euch das Leben in 1200 extrem erleichtern kann – wenn du also in einem Kryogenik-Behälter eingefroren wirst, halte dich ruhig an mich nach dem Auftauen 😉

        Megalotastische Festtage wünscht mit ihrem üblichen Knicks,
        die Sarah

        Antworten

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