#17. Türchen

von | 17.12.2015 | #litkalender, Kreativlabor

Vater, Mutter, KindVater, Mutter, Kind

Den Bürgermeister hatte er schon erspäht. Er saß gemeinsam mit Frau und Kindern einige Bänke vor ihm. Er würde ihn später draußen noch in ein Gespräch verwickeln, das würde zumindest für ein wenig zusätzliche öffentliche Aufmerksamkeit sorgen. Ansonsten war von den Honoratioren keiner da. Ärgerlich, aber nicht zu ändern. Später, in der richtigen Christmette, würde es anders sein, da war er sich sicher.
Er hatte sich für den Besuch der Kindermette am späten Nachmittag entschieden, um wenigstens diesen einen Abend anschließend in Ruhe und ohne weiteren Termindruck verbringen zu können. Aber natürlich musste er sich an diesem Tag in der Kirche sehen lassen. Das gehörte sich für einen konservativen Politiker hier in der Provinz immer noch. Deshalb also die Kindermette. Außerdem konnte es auch nicht schaden, sich einmal bei einer Veranstaltung speziell für Familien mit kleinen Kindern blicken zu lassen. Die meisten wichtigen Leute würde er ohnehin in ein paar Tagen auf dem Neujahrsempfang treffen. Und immerhin war in der Lokalpresse über den Besuch der örtlichen Kolpingjugend bei ihm in Berlin recht ausführlich berichtet worden, da war er sehr gut weggekommen. Das musste erst einmal reichen.

Die letzten Wochen waren wieder einmal die Hölle gewesen. Nach seinem Eindruck noch schlimmer als sonst in der Zeit vor Weihnachten. Er war nur noch von Termin zu Termin gehetzt; neben den obligatorischen Sitzungen musste er sich in dieser Zeit noch bei den diversen Weihnachtsfeiern blicken lassen. Außerdem galt es gerade jetzt, Unterstützer in der eigenen Partei zu finden, wenn er noch weiter vorankommen wollte.
Es hatte Jahre gedauert, sich einen größeren Bekanntheitsgrad zu verschaffen, vom Hinterbänkler in einflussreichere Positionen aufzusteigen. Bald würde sich entscheiden, ob er auch einen Platz im künftigen Kabinett finden würde. Dafür hatte er all die Jahre verbissen gekämpft und nach den Feiertagen würde es weitergehen. Aber heute freute er sich erst einmal auf eine gute Flasche portugiesischen Rotwein und Ruhe. Mit niemandem reden müssen, einfach nur dasitzen.

Das Krippenspiel rauschte an ihm vorüber. Es bedeutete ihm nichts, aber der Ritus war ihm von Kindesbeinen an vertraut. Der Pfarrer gebrauchte die altvertrauten Worte vom Kind in der Krippe, irgendetwas mit Geborgenheit und Zuversicht und Vertrauen. Er hörte nicht weiter hin. Dann war es endlich vorüber. Jetzt noch ein paar Worte mit dem Bürgermeister und seiner Frau, ein paar Hände schütteln und über Kinderköpfe streicheln. Mein Gott, sind die die groß geworden. Gehst du denn schon in die Schule? Dann würde endlich die ersehnte Ruhe einkehren.
Anfangs, nach der Scheidung, hatte er manchmal noch Angst gehabt, in eine leere Wohnung heimzukehren, allein zu sein, ohne Manuela und Dominik. Zu seiner eigenen Verwunderung hatte er sich sehr schnell daran gewöhnt. Ja mehr noch, er genoss es, für sich zu sein, ohne weitere Verpflichtung. Auch heute umfingen ihn die Wärme und die Stille in seiner Wohnung aufs Angenehmste. Die Unterhaltung mit Fechner hatte länger gedauert als beabsichtigt. Dessen Familie war erkennbar ungeduldig daneben gestanden, aber Fechner, ambitioniert wie er war, ließ sich weder von der Kälte noch von der bevorstehenden weihnachtlichen Bescherung von einem längeren persönlichen Gespräch mit dem Herrn Bundestagsabgeordneten abbringen.

Der Wein war köstlich, samtig und vollmundig, wie er ihn liebte. Er hatte die richtige Wahl getroffen. Entspannt lehnte er sich zurück und schloss für ein paar Minuten die Augen. Er musste wohl ein wenig eingenickt sein. Plötzlich stand eine Szene ganz deutlich vor ihm, etwas ganz Banales, nicht weiter wichtig. Er hatte sie während seines Gesprächs mit Fechner kaum bewusst wahrgenommen. Nun aber hatte er sie deutlich, ja überdeutlich wieder vor Augen und sie erschien ihm plötzlich überaus bedeutend.

Ein kleiner Junge, er mochte fünf oder auch sieben Jahre alt sein – Joachim kannte sich da nicht so aus – seine Handschuhe baumelten an einer Kordel aus den Jackenärmeln, während er seine kleine Hand in die seines Vaters schob. Es war der Blick des Kindes, der ihn so frappierte. Grenzenloses Vertrauen lag darin, Vertrauen und Zuneigung. Die beiden gehörten auf so scheinbar selbstverständliche Weise zusammen, das konnte Joachim in diesem Moment spüren. Ein Vater und sein Sohn.
Hatte er selbst jemals diese Nähe zu seinem Sohn gespürt, fragte er sich plötzlich. Dominik. Es war lange her, dass er überhaupt an ihn gedacht hatte. Hatte er ihn jemals vermisst? Eigentlich nicht, wenn er ehrlich war. Im Grunde war ihm sein einziger Nachkomme immer fremd geblieben, auch wenn er sich das in dieser Deutlichkeit noch nie eingestanden hatte. Wie alt war Dominik jetzt? 29 oder30? Vielleicht war er sogar seinerseits bereits Vater. Dann wäre er, Joachim, Großvater ohne es zu wissen. Seit der Abifeier damals, seit dem kurzen, heftigen Wortgefecht hatten sie sich kaum mehr gesehen. Selbstverständlich war er auch während Dominiks Studium weiterhin seinen finanziellen Verpflichtungen nachgekommen. Da sollte ihm keiner etwas nachsagen können. Mehr aber auch nicht.

Auf einmal schien ihm, als gebe es einen Riss in seinem Leben. So sorgfältig er seinen beruflichen Werdegang geplant hatte, so zufallsbedingt, geradezu beliebig, erschien ihm sein Familienleben. Da hatte sich alles einfach so ergeben, ohne sein Zutun gewissermaßen. Die Ehe mit Manuela, Dominiks Geburt, später dann das Auseinanderbrechen der Beziehung und die Scheidung. All das hatte wenig mit ihm zu tun, schien ihm, er fühlte sich kaum davon betroffen.
Anderes hatte seine ganze Aufmerksamkeit gefordert: erst seine Karriere als Jurist, dann war das politische Engagement dazugekommen, schließlich das Angebot für eine Bundestagskandidatur. Eine einmalige Gelegenheit. Hätte er dazu nein sagen sollen? Er hatte keine Sekunde gezögert, im Gegenteil: Joachim hatte sein Glück damals kaum fassen können und er begriff nicht, damals nicht und auch heute noch nicht, weshalb Manuela so anders empfand. Er verstand ihren Wunsch nach mehr Zeit miteinander und mit Dominik nicht. Er verstand nicht, wie sie so zufrieden sein konnte mit einem Leben ohne große Herausforderungen. Er wollte mehr – und er hatte es bekommen. Manuela hatte ihr Glück schließlich in einer zweiten Ehe gefunden. Er war froh darüber gewesen, so brauchte er wenigstens kein schlechtes Gewissen zu haben.

Sein Blick schweifte durch das Zimmer. Er hatte das Gefühl, es zum ersten Mal wirklich bewusst wahrzunehmen. Dabei wohnte er schon viele Jahre hier. Es erschien ihm unpersönlich, sicher geschmackvoll, aber unpersönlich. Keine Spur etwa von Advents- oder Weihnachtsschmuck, schlimmer noch: Keine Spur seines eigenen Lebens, das fiel ihm jetzt auf. Gab es das überhaupt, sein Leben jenseits von Besprechungen, Terminen, Geschäftsessen und Delegationsreisen? Die kleine Szene fiel ihm wieder ein. Der Blick des Kindes, die Vertrautheit. Hatte es jemals in seinem Leben eine kleine Hand gegeben, die sich vertrauensvoll in die seine geschmiegt hätte? Joachim konnte sich nicht daran erinnern. Er selbst hatte es wohl nicht zugelassen. Es war ihm nicht wichtig gewesen. Er neigte gewiss nicht zu Sentimentalität, doch nun befielen ihn Zweifel an seinem Lebensentwurf.
Ein bitteres Gefühl machte sich in ihm breit. Hatte er, der Zielstrebige, nicht in einem wesentlichen Punkt versagt? Hatte er über all seinen Erfolgen etwas ungleich Wichtigeres vergessen – nämlich seinem kleinen Sohn die Hand zu reichen und ihn auf seinen ersten, tastenden Schritten ins Leben zu begleiten. Hätte sich im Nachhinein betrachtet nicht so mancher Termin verschieben oder ganz absagen lassen, hätte er diese Zeit nicht um so viel gewinnbringender besser mit Dominik verbracht?

Zu spät. Vorbei. Das Rad ließ sich nicht mehr zurückdrehen.

Der Abend war ihm vergällt, sogar der Wein schien seinen Geschmack eingebüßt zu haben. Obwohl er müde war, saß Joachim bis weit nach Mitternacht da. Vater, Mutter, Kind. Die drei Worte spukten ihm gebetsmühlenartig im Kopf herum. Vater, Mutter, Kind.

Zu spät. Vorbei. Versagt. Er hatte versagt.

Wie ging es jetzt weiter? Es schien ihm unmöglich, sein Leben einfach wie gewohnt fortzusetzen.

Dr. Elisabeth Schinagl

Kurzvita:

Dr. Elisabeth Schinagl, geb. 1961 in München, Studium der klassischen Philologie und Germanistik in Eichstätt und Regensburg. Ich war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für mittellateinische Philologie an der Katholischen Universität Eichstätt und danach Gymnasiallehrerin. Seit 2009 bin ich als Referentin im Bayerischen Landtag tätig. Ich publiziere seit 2010 und habe inzwischen sechs Bücher veröffentlicht. Weitere Informationen dazu finden Sie auf meiner Homepage: www.elisabethschinagl.de.

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

2 Kommentare

  1. Avatar

    Niemand würde versagen, oder, niemand würde sein Versagen so bemerken, wäre da nicht täglich dieser törichte Zwang, alles richtig machen zu müssen. – Und der Grund für so viele kaputte Familien? Dass man dem Partner auch die absolute Fehlbarkeit abverlangt.

    Grüße.

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  2. Avatar

    Das Bild des kleinen Jungen, der seinen Vater an der Hand hält (oder umgekehrt) ist ein sehr starkes und emotionsgeladenes. Ich überlege gerade, ob die Situation am Ende sehr stark überzeichnet ist oder ob sie genau so schon vorgekommen sein kann. Ein Text, der zum Nachdenken, aber auch zum Umdenken anregt.

    Danke

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