Sieben Sprünge sind es laut Ulrike Draesners Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“, der Wortklauberin Erika mit seinen vielen Perspektiven keine Ruhe mehr gelassen hat.
Eines ist sicher: Ulrike Draesner hat sich mit ihrem Roman „Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ die Latte hoch gesteckt und versteht es, sie noch zu übertreffen. Sie schreibt über vier Generationen der Familie Grolmann hinweg über den Zweiten Weltkrieg, Vertreibung und Flucht, von Bombennächten, Traumata und ihrer Verarbeitung, von Neuanfang, von Ende und von Affenforschung. Darüber spinnt sich der Himmel der deutschen Geschichte, in dem die Protagonisten des Romans Luftwurzeln schlagen, die wiederum mit unsichtbaren Familienbanden verbunden sind.
Vom Krieg zum neuen Leben
Eustachius Grolmann, genannt Stach, ist zum Zeitpunkt der Handlung 82 Jahre alt, emeritierter Professor und angesehener Affenforscher. Er und seine Tochter Simone haben kein gutes Verhältnis, dafür bemüht sich die Enkelin Esther umso mehr, eine Verbindung zu ihrem Großvater aufzubauen. Dabei gibt es vieles, was sie nicht wissen. Zum Beispiel, dass Stach vor dem Zweiten Weltkrieg als Sohn einer Familie im ehemaligen Ostschlesien aufwuchs und einen Bruder namens Emil hatte. Sie wissen nicht, dass Emil einen Klumpfuß hatte; Stachs und Emils Eltern mussten einige Opfer dafür bringen, um Emil vor dem nationalsozialistischen Rassenwahn zu retten. Simone und Esther wissen auch nicht, dass Emil den Zweiten Weltkrieg trotz allem nicht überlebt hat. Die Flucht gen Westen, weg von der Front, war zu viel für ihn, zu viel für Eustachius und die Mutter, die sich in Bayern ein vollkommen neues Leben aus Nichts aufbauen müssen.
Die Luftwurzeln schlagen aus, treiben, und nach dem Krieg wird Eustachius zum Affenforscher. Ihn faszinieren die Affen, er sucht nach dem Menschlichen in ihnen und findet es – mehr noch als im Menschen. Eustachius‘ Lebensphilosophie ist mehr eine Überlebensphilosophie, die er nicht zuletzt auch seiner Tochter weitergibt.
Eine Generationenfrage?
Diese Überlebensphilosophie – wie gut du es doch hast – aus der Vergangenheit des Vaters wiegt schwer auf der Beziehung zu Eustachius‘ Tochter Simone. Simone erwartete viel von ihrem Vater, wurde jedoch zunehmend enttäuscht, da er sich mehr mit Affen denn mit ihr beschäftigte. Sie lernt, alleine klarzukommen, und wünscht sich doch einen Vater, der sich um sie kümmert. Im Streben nach seiner Anerkennung schlägt sie denselben Weg ein wie er, beforscht Affen und deren Verhalten und sucht so die Verbindung zum Vater. Doch viel Ungesagtes steht zwischen ihnen, und erst durch ihre Tochter Esther vermag sie es, sich Eustachius wieder anzunähern.
Eustachius ist zum Zeitpunkt der ersten Handlungsebene 82 Jahre alt und immer noch fasziniert von Affen. So kommt es dazu, dass er zwei Schimpansen aus dem Zoo entführt und für sie ein unterirdisches Paradies auf seinem Grundstück baut.
Meisterhaft multiperspektivisch erzählt
Was heißt es, Krieg, Vertreibung, Flucht zu erleben? Was heißt es, sich nach der Flucht, nach dem Krieg, in der Fremde eine neue Heimat aufzubauen? Was heißt es, gerade das nicht zu erleben und es doch ein Leben lang als vererbtes Trauma mit sich zu tragen?
„Sieben Sprünge vom Rand der Welt“ schafft ein Familienepos, das kein Epos ist. Nichts an der Geschichte ist heldenhaft, sie zeigt vielmehr die vielen Seiten des Menschlichen, mit denen man im Laufe eines Lebens konfrontiert wird. Die vier Generationen an Grolmanns verhalten sich nicht immer moralisch korrekt, doch darum geht es nicht. Sie verhalten sich opportunistisch, der jeweiligen Situation entsprechend – gerade das macht den Roman so realistisch. Man möchte ihn nicht weglegen und fürchtet zugleich den Moment, in dem man die letzte Seite umblättert und zurückbleibt mit den vielen Anstößen zum Nachdenken über das Menschsein, über Schuld und Nichtschuld, über den Neuanfang und das Vergangene.
Draesner erzählt die Geschichte aus allen Perspektiven und verleiht dabei jedem Mitglied der Familie Grolmann eine eigene Stimme, die mal mehr, mal weniger ins Lyrische geht. So erhalten selbst die Toten – Eustachius‘ im Krieg gefallener Vater und Emil – die Gelegenheit, in lyrischen Zeilensprüngen eine Stimme. Diese Stimmen sind im ersten Moment nicht immer nachvollziehbar, sondern verdeutlichen vielmehr das Nicht-Verstehen der Situation, die Tatenlosigkeit des Toten, die Sprachlosigkeit inmitten des Krieges, der zu gewaltig ist, um ihn in Worte zu fassen. Gerade leisten sie einen bedeutenden Beitrag zum Gesamtbild der Erzählung. So entsteht ein fesselnder, sehr empfehlenswerter Roman über Themen, über die niemals genug gesprochen werden kann und die ihre Aktualität auch in der heutigen Zeit behalten.
Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Ulrike Draesner. Luchterhand. 2014.
Weitere Informationen: der-siebte-sprung.de
0 Kommentare