Buchstaplerin Maike hat sich auf der Leipziger Buchmesse die Lesung und das Gespräch mit Olja Alvir zu ihrem Debüt „Kein Meer“ angehört. Der autobiographisch geprägte Roman handelt von der Identitätssuche einer Journalistin in einem Land, das es so nicht mehr gibt. Dabei werden körperliche Tabuzonen ebenso angesprochen wie politische. Plötzlich sind sich ausgerissene Schamhaare und schmerzhaft aktuelle Flüchtlingspolitik näher, als man zuerst annimmt.
Vor der Lesung kann ich mich noch ein bisschen mit Olja Alvir unterhalten. Auf die Frage, ob sie schon hibbelig sei, antwortet Alvir, „ein bisschen, ja.“ Davon ist Minuten später nichts mehr zu merken, als sie auf der kleinen Bühne Platz nimmt. Auch im lauten Messegewühl wirkt sie hochkonzentriert im Gespräch mit Christian Berger von literadio.org.
„Feuchtgebiete haben keine Botanik“
Alvir beginnt mit einem kleinen Schockmoment, der im ersten Augenblick möglicherweise an Charlotte Roche erinnern mag. Immerhin erzählt ihre Protagonistin schonungslos und offen von ihrer Sexerwartung, ihrer Philosophie der Intimenthaarung, den damit verbundenen schmerzhaften Verrenkungen. Doch Alvir, die in Tabuzonen führt und uns verführt, lässt schnell durchblicken, dass es ihr nicht um schlüpfrige Effekthascherei geht. Stattdessen entlarvt sie die Scheinheiligkeit westlicher Körperideale und steriler Pornoästhetik – und reißt damit wie nebenbei Sexismus und Rassismus an. Tatsächlich wirkt es, als würde ich einer feministischen großen Schwester zuhören, die auf amüsante, wenn auch vulgäre Art das sagt, was sich nicht jede*r traut.
„Haben die nichts dazugelernt?“
Doch im Gespräch mit Berger wird klar, hinter „Kein Meer“ steckt noch viel mehr. Alvir, die sich selbst mit dem Wortspiel „Jugošlawienerin“ identifiziert, teilt sich mit ihrer Protagonistin Herkunft und Erfahrungen: Geflüchtet aus dem Jugoslawien-Krieg, groß geworden in Österreich, blicken sie auf Geschichten von Faschismus und Identität. Die junge Autorin ruft in Erinnerung, dass vor gerade mal 25 Jahren Europa mit einer Situation konfrontiert gewesen ist, „riesige Zahlen“ an Geflüchteten aus Jugoslawien unterzubringen. Ein Vierteljahrhundert nur, aber damals gab es eine „ganz andere Form der Solidarität“, merkt Alvir an, für die Flucht ein Menschenrecht und Fluchthilfe eine Menschenpflicht ist. Sie stellt sogleich eine der Kernfragen: „Was macht man mit den Faschos in der eigenen Familie?“ Keine Erfahrung, die nur für Migrant*innen oder Deutsche reserviert ist – alle müssen sich mit den fraglichen Aussagen und fraglichen Personen im eigenen Umfeld auseinandersetzen, dem man nicht entkommen kann. Mitschuld ist überall. Und Österreich baut jetzt wieder Zäune.
Kein Meer. Olja Alvir. Zaglossus. 2015.
Eine Rezension zum Buch könnt ihr in Kürze im Bücherstadt Kurier lesen.
Ihr möchtet die Sendung vom 17. März nachhören? → Klick.
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