Was ist Literatur?
Über Literatur kann man ja bekanntlich streiten: Sind Fantasyromane, Frauenromane, Kinder- und Jugendbücher Literatur? Gehört zur Literatur nur die sogenannte „anspruchsvolle Literatur“? Und: muss man Literatur studiert haben, um schreiben zu können und vor allem, um erfolgreich zu sein? Einige Bücherstädter haben sich zu diesen Fragen Gedanken gemacht.
Daniela:
Literatur kann alles sein, was in geschriebener Form vorliegt. Das kann ein Buch, ein Text, ein Brief oder eine Notiz sein. Wenn das geschriebene Wort in uns eine Assoziation oder Gefühle auslöst, uns zum Nachdenken bringt oder wir Spaß daran haben es zu lesen, dann haben wir Literatur vor uns liegen, egal woher es stammt. Literatur ist für mich deshalb der Teil des Schreibens, wo das Handwerk aufhört und die Kunst anfängt. Studieren heißt immer nur, etwas von außen zu betrachten. Literatur ist nicht erlernbar, denn sie kommt von Herzen.
Aaron:
Meine Meinung ist bedingt durch das Literatur-Studium bestimmt schon ein Stück weit institutionell gebildet. Mir wurde gelehrt, dass es verschiedene Eigenschaften gibt, auf die man Literatur untersuchen kann.
Hier zwei Beispiele: In Hinsicht auf Qualität (z.B. Mehrdeutigkeit, Ästhetischer Stil, Innovation,…) gibt es Texte, die zwar keine Qualität besitzen, aber trotzdem als literarisch angesehen werden (z.B. diese grässlichen Ärzte-Novellen, Trivialliteratur…). In Hinsicht auf Fiktionalität gelten viele Bücher als Literatur (z.B. Franz Kafkas „Die Verwandlung“, aber auch „Harry Potter“ und ähnliche Fantasyliteratur), doch es gibt Texte wie Biographien und Epigramme, die nicht dem Kriterium entsprechen und dennoch literarisch sind.
Ebenso habe ich gelernt: Es gibt eben diese und viele andere Kriterien bzw. Sichtweisen, was Literatur ist. Es gibt nicht nur eine einzige Wahrheit und das letzte Wort ist vermutlich nie gesprochen. Es gibt auch verschiedene Funktionen, die Texte haben oder nicht haben. Im Bezug auf unsere Bücherstadt stelle ich mir vor, dass jeder für sich mit seiner Meinung über Literatur richtig liegen kann: Ob er/sie überhaupt Literatur liest oder nicht.
Und noch eine Idee von mir dazu: Texte bzw. Geschichten werden nicht immer schriftlich festgehalten und vermittelt. Ich finde, Bildende Künste, Musik, Performance (und auch die Kombination daraus, der Film) können genauso zu einer Gruppe der Kommunikation zählen wie Literatur.
Man muss nicht irgendein Fach an irgendeiner Uni studiert haben, um irgendetwas zu tun! Das Zertifikat nach dem Studium ist nur ein Schein (im jeglichem Wortsinn) und höchstens nützlich für die Stellensuche, den Geldverdienst und die Legitmation in unserer Gesellschaft.
Rebecca:
Früher hatte ich eine Aversion gegen das Wort „Literatur“, vielleicht weil ich es damals zu eingeschränkt gesehen habe. Für mich ist es unendlich viel mehr. Literatur kann Bilder und sogar Musik hervorrufen, die bei jedem einzelnen so unterschiedlich sind. Sie macht ihre Leserschaft zu Regisseuren ihres eigenen Films im Kopf. Oder man versteht sie als eine Art Melodie, die nur bei denen eine Gänsehaut verursacht, die es lieben und verstehen. Es ist wie ein Bild, das jeder kennt und jeder sieht und spürt die Farben anders verlaufen. Geschriebene Worte, die miteinander tanzen und die Fantasie eines jeden einzelnen herausfordern, das alles ist für mich eine Beschreibung, wie die Literatur wirken kann.
Erika:
Literatur hat viele verschiedene Definitionen – am Anfang des Studiums wurden mir drei Möglichkeiten unterbreitet: eine sehr enge, die den Literaturbegriff beschränkt, eine weite, die sehr viel mit einbezieht, das wir vielleicht nicht als Literatur in diesem Sinne verstehen würden, und ein Mittelmaß irgendwo dazwischen. Wirklich befriedigend ist dies nicht. Im Endeffekt treffen sie alle den Kern der Sache nicht. Literatur ist für mich ein sehr weiter Begriff, sie ist etwas Besonderes. Edgar Allen Poe nannte bei einem Kommentar zu einer Kurzgeschichte Hawthornes‘, eine Kurzgeschichte solle etwas Kleines, eine Besonderheit enthalten, die hängen bleibt und zum Nachdenken anregt. Man kann es vielleicht als eine Art „göttliches Fünkchen der Kreativität“ außerhalb der Gesellschaft (wie Adorno Literatur im Aufsatz „Literatur und Gesellschaft“ verortet) sehen.
Was ist dann mit allem Anderen, was wir als Literatur ansehen? Es gibt viele verschiedene Formen der Rezeption, des Aufnehmens, und genauso viele Facetten der Literatur. Literatur ist für mich, in den Worten Paul Celans, eine „Flaschenpost“, die ausgeworfen wird in der Hoffnung, „Herzland“ zu erreichen. Zugleich bleibt sie aber nicht von der Gesellschaft und dem Puls der Zeit abgeschottet. Sie bleibt ein Seismograph, in den sich die Erschütterungen der Geschichte und der Gesellschaft niederschreiben, und hat zugleich mit denselben Problemen zu kämpfen wie sie. Das Problem der Sprache etwa, das nach dem Ende des 2. Weltkriegs aufkam, wirkte sich auch auf die Literatur aus.
Zum schriftlich Festhalten fällt mir noch ein, dass Rechtsgeschäfte im Mittelalter (und zuvor in der Antike) erst mit dem Niederschreiben in einer Urkunde rechtskräftig wurden. Literatur wirkt in jede Schicht ein – von Spirituellem/Religion (vgl. Klosterstuben im Mittelalter) über Rechts- und Verwaltungsakte bis hin zum Mündlichen (sonst hätten wir die Gebrüder Grimm und ihre Märchen nicht), und die Einflussbereiche hören und hören nicht auf.
Was Literatur angeht – obwohl die Grenzen der Künste immer mehr verschwinden, bin ich doch eingeschränkt. Ich sehe in Bildender Kunst und Skulptur nicht unbedingt Literatur: ich sehe darin die Kunst wie sie leibt und lebt.
Sollte man Literatur studieren um zu wissen, was es ist? Ich glaube nicht. Jeder mit ein bisschen Schmalz im Hirn und Herz im Kopf schafft es, sich selbständig Gedanken zu machen. Literatur ist schließlich nicht auf ein Studium begrenzt – das wäre ja noch schöner.
Noch eine Frage: Wie abwertend ist „Trivialliteratur“ überhaupt noch? Was sind Kriterien dafür? Und was macht einen Klassiker erst zum Klassiker?
Elisabeth:
Literatur war für mich im Gymnasium immer ein böses Wort: Alles, was ich gern und viel gelesen habe, hat meine Professorin als Trivialliteratur abgetan und verurteilt und nur das, was in ihrem „heiligen Buch“, der Literaturgeschichte über künstlerisch gestaltete Wort- und Satzbausteine stand, war für sie Literatur. Aversion schon einmal festgelegt.
Literatur fängt für mich heute dort an, wo mit Worten auf künstlerische oder erzählende Art und Weise etwas beschrieben wird, und zwar so, dass man in irgendeiner Weise mit Kopf und Herzen angesprochen wird. Literatur kann auch einfach geschrieben werden, Bilder im Kopf erzeugen, oder dazu bringen, sich stundenlang mit einem Absatz zu beschäftigen.
Dass man Literatur verschieden betiteln und identifizieren muss oder soll, ergibt wohl Sinn. Die „hohe“ Literatur, die Klassiker und Bücher zum Nachdenken sind nicht immer jedermanns Sache. Umgekehrt aber auch nicht die, mit welchen man sich abends vor dem Einschlafen beinahe zudeckt, weil man „nur noch eine Seite zu Ende lesen will“.
Ein Literaturstudium eröffnet Hintergründe, Betrachtungsweisen und Quellen, aber um besser oder erfolgreicher schreiben zu können, dazu braucht es eine ganz andere Kunst als ein Studium. Egal in welchem Bereich, egal, ob man ein Fantasybuch schreibt, einen guten Thriller, ein Gedicht oder eine Biografie. Kreatives Arbeiten und Umgehen mit Wort und Satz – das ist wohl das Geheimnis.
Silvia:
Ich finde Definitionen generell problematisch. Ja, sie sollen das Verständnis erleichtern, aber im Grunde gibt es nie nur eine einzige Definition zu einer Sache. Wenn ich zum Beispiel frage: „Was ist Grün?“, stellt sich jeder von uns ein anderes Grün vor; es kommt also zu unterschiedlichen Definitionen.
Die Definitionen von Literatur, die mir an der Uni begegnen, finde ich unpassend, da viel zu viel ausgeschlossen wird. So Sachen wie Einkaufszettel und Fahrplan würde ich auch zu Literatur zählen; das hat dann halt eine andere Funktion als zum Beispiel ein Roman oder ein Gedicht. Literatur ist für mich primär eine Ausdrucksform und damit eine der „Künste“ so wie auch Malen/Zeichnen, Fotografieren, Tanzen, Schauspielen, etc.
Zur Frage „Sollte man Literatur studiert haben, um schreiben zu können und erfolgreich zu sein?“ fällt mir spontan ein persönliches Erlebnis dazu ein: In meiner Oberschulzeit fand eines Tages eine Lesung der Südtiroler Autorin Sabine Gruber statt. Sie erzählte, wie sie zur Literatur und zum Schreiben gekommen war und erwähnte in diesem Zusammenhang auch, dass ihr das Germanistik-Studium sehr bei ihrem Schreiben geholfen hätte. Eine gute Freundin von mir, die ebenfalls leidenschaftlich gerne schreibt, ärgerte sich offenbar so sehr darüber, dass sie der Autorin die Frage stellte, ob sie denn der Meinung sei, dass man Literatur studiert haben müsste, um gut schreiben zu können. Ihre Antwort: natürlich sei es nicht Voraussetzung.
Ich selbst finde, dass es nicht notwendig ist, Literatur zu studieren, um schreiben zu können. Ich denke, in den Künsten braucht es immer ein gewisses Talent und vor allem Freude daran. Ich kann mir aber schon vorstellen, dass einem ein solches Studium vielleicht in irgendeiner Weise beim Schreiben weiterhelfen kann, wobei diese Weiterentwicklung meiner Meinung nach aber auf vielerlei Arten und unterschiedliche Einflüsse erreicht werden kann, zum Beispiel auch, wenn man viel liest oder in einer Bibliothek arbeitet.
Alexa:
„Was ist Literatur?“ ist eine Frage, die für mich immer klar zu beantworten war: Literatur ist alles Geschriebene, unabhängig vom Genre und Umfang des Textes, das uns in irgendeiner Weise anspricht, zum Nachdenken bringt und berührt. Doch immer häufiger begegnen mir auf Verlagswebsiten und Literaturblogs Rubriken, die die „Literatur“ von bspw. Fantasy und Kinderbuch abgrenzen. Auf buzzaldrins.com las ich ein sehr interessantes Interview mit Karla Paul und stieß dabei auf folgenden Gedanken: „Literaturblogger sind für viele häufig die, die Fantasy besprechen oder kleine Mädchen, die Kerstin Gier lesen – das hat natürlich auch seine Berechtigung, aber es gibt so viele tolle Blogger, die große Literatur besprechen und die teilweise ziemlich untergehen.“ Ist Fantasy denn keine Literatur? Schreibt Kerstin Gier keine Literatur? Und was ist große Literatur überhaupt? Es gibt Bücher, die als große Literatur bezeichnet werden, die ich als Schund bezeichnen würde, und anders herum Bücher, die als Schund gesehen werden, als große Literatur. Immer mehr habe ich den Eindruck, dass „anspruchsvolle Literatur“ sich abheben will, sich über andere Genres stellen will, als sei es die einzig wahre Literatur und alles, was drum herum ist, Schund. (Dabei kann Fantasy genauso anspruchsvoll sein, man denke dabei an Tolkiens Werke!)
Schlussendlich geht es für mich in der Literatur um nichts anderes als um die Wirkung. Ein Roman kann noch so gut durchdacht und gut geschrieben sein – wenn er mich nicht berührt, hat er die gleiche Funktion wie ein Roman, der schlecht geschrieben ist: nämlich keine. Können und Talent sind für mich in der Literatur nicht unbedingt das Entscheidende. Es ist wie in der Musik: der Musiker mag hochbegabt sein und doch vermag er nicht jedes Herz zu berühren. Ein Gedanke, der aufzeigt, wie wichtig die Vielfältigkeit der Literatur ist, unabhängig vom Genre.
Susanne:
Da ich sehr viele Gedichte schreibe, ist für mich (ein Zitat von mir) „Lyrik, die Momentaufnahme der Seele.“ Bilder sind durchaus Literatur. Weil Literatur im Kopf der Leser ja auch Bilder erzeugt.
Bild: Helvetica, Buch 3, piqs.de
Danke für die interessanten Ausführungen.
Hat dies auf bikMAG rebloggt und kommentierte:
Beiträge zu einer ewigen Diskussion… mit interessanten Ansichten!
Danke für die interessanten Blickwinkel zum Thema was ist Literatur.
ich hab die Lust am Schreiben entdeckt.
Hab kein Studium zur Literatur.
spiele gerne mit Worten.