Verstaubt war gestern – der Graphic Canon ist da

von | 23.01.2016 | Belletristik, Buchpranger

Walt Whitman als Superheld! Der Struwwelpeter, so gruselig wie nie! „Stolz und Vorurteil“ vor Ornamenten strotzend! Dass vermeintlich verstaubte Klassiker der Literatur schon längst im Gewand der Graphic Novel ein neues, breites Publikum gefunden hat, ist mittlerweile bekannt. Jetzt ist bei Galiani die deutsche Ausgabe des „Graphic Canon“ erschienen, die nichts weniger ist als eine verdichtete Zusammenstellung der bekanntesten Werke aus über einhundert Jahren. Ein Who is Who der Erzählkunst – aber auch der Comic-Kunst. – Von Buchstaplerin Maike

Der „Graphic Canon“ ist, soviel muss ich gleich zu Beginn gestehen, anspruchsvoller als ich erwartet hatte – und in seiner Fülle kaum zu erfassen. Wer glaubt, hier handelt es sich um leichte Kost oder gut verdauliche Inhaltszusammenfassungen, muss enttäuscht werden. Zwischen den massiven Buchdeckeln ist die Liebe zur Literatur und zum graphischen Erzählen zusammengefasst, und das oftmals in einer Form, die viel Konzentration abverlangt.
Der Fokus dieses Bandes liegt vor allem auf literarischen Werken des 19. Jahrhunderts – 44 an der Zahl. Hauptsächlich Prosa und Gedichte werden unter die Lupe genommen, wobei letztere sogar häufig zur Gänze abgedruckt sind. Was diesen Band von der englischen Ausgabe unterscheidet, sind Bearbeitungen von deutschen Texten, die extra angefertigt worden sind, unter anderem bekommt man einen bitterbösen, witzigen Vorgeschmack auf „Faust“ von Flix.

Der Aufbau der einzelnen Adaptionen ist über das ganze Buch hinweg einheitlich und versorgt mit den nötigen Hintergrundinformationen. Eine Einführung über die jeweiligen SchriftstellerInnen, Werke und Adaptierenden geht dem eigentlichen graphischen Werk voraus. Doch da enden Gemeinsamkeiten: Die Adaptionen variieren in Länge, Stil und Atmosphäre. Manches kommt abstrakt daher wie Matt Kishs fantastische Interpretation von „Moby Dick“ – manches hingegen ist eine originelle Zusammenfassung oder ein Ausschnitt aus einer bestehenden Graphic Novel, so etwa Jason Cobleys Adaption von „Frankenstein“. Spielerisch einfaches (John Porcellinos Interpretation von „Walden“) reiht sich ganz selbstverständlich ein neben düstere, sehr erwachsene Kunst (Kakos Bearbeitung von „Verbrechen und Strafe“).

Interessant zu sehen, was mit Werken geschieht, die man selbst bereits kennt und liebt – und wie viel man sich über Werke, die bisher unter dem eigenen Radar hindurchgeflogen sind, durch die Visualisierung zusammenreimt. So trifft für mich die verschnörkelte Collage über „Das Bildnis des Dorian Gray“ (John Coulthart) genau die Atmosphäre des Buches, wie ich es liebe – während Eran Cantrells Bearbeitung des „Jabberwocky“ ganz neue Assoziationen erzeugt. Schwarze, filigrane Scherenschnitte in einem nicht abstreitbaren Steampunk-Look lassen beinahe an Jump’n’Run Spiele denken, an das Vorpreschen, das Entgegentreten eines Endbosses. Dann wiederum machen mich Elizabeth Watasins reduzierte Aquarelle neugierig auf „Jane Eyre“, während die düster-verschmierte Optik von „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“ (Danusia Schejbal und Andrzeij Klimowski) mich eher weiterblättern lässt.
Es zeigt sich, dass auch angestaubte Klassiker modern gelesen werden können, wenn nicht sogar sollen. Mit den Augen von internationalen Comic-KünstlerInnen, die ihre eigenen Lesarten visualisieren, werden bekannte und fremde Werke lebendig. Wie gut das gelingt, ist von Adaption zu Adaption verschieden und hängt nicht zuletzt vom persönlichen Geschmack ab. Im simpelsten Fall ist das einfach schön anzusehen, im besten Fall regt der Graphic Canon dazu an, die Klassiker mit wachen Augen (neu) zu entdecken.

Ist es also ein Buch über die Bücher – oder ein Buch über die Comic-Kunst? Wohl beides. Was zusammengetragen wurde, ist nicht nur ein Who is Who der Klassiker, von denen man schon mal gehört haben sollte, sondern auch ein Nachschlagewerk für die Arbeiten zahlreicher Comic-KünstlerInnen. Schließlich steckt es schon im Titel: es gibt keinen geringeren Anspruch, als ein Kanon für Literatur graphischer Literatur zu sein – wobei auch immer ein Augenzwinkern und spielerischer Umgang dabei ist. Nur kein Staub.

The Graphic Canon, Band 2: Von Tristram Shandy über Jane Austen bis Dorian Gray. Herausgegeben von Russ Kick. Aus dem Englischen u.a. von Steffen Jacobs und Anja Kootz. Galiani. 2015.

Bücherstadt Magazin

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