Mein Sohn ist behindert, wodurch wir bereits viele aufregende, anstrengende und für Außenstehende merkwürdig erscheinende Tage erlebt haben. Doch keiner war so seltsam wie der, an dem Ole einen Flohmarkt veranstaltet hat und neben seinem Spielzeug versehentlich auch Knochen verkaufen wollte.
Ich bin alleinerziehender Vater und lebe, wie die Jugendlichen heute sagen, „spießig“. Ich besitze ein kleines Haus mit Garten. Die Hecken sind immer ordentlich gestutzt, die Fenster so sauber, dass manch einer denken könnte, dass gar keine Scheibe existiert, und ich bin stolzer Sammler von Gartenzwergen. Meine Frau ist tot. So habe ich mir mein Leben nie vorgestellt; ich wollte mit ihr alt werden, drei gesunde Jungs bekommen, die sportlich sind, gut in der Schule und später mal Anwälte werden, damit sie mich finanziell unterstützen, sodass ich in Ruhe auf meinem kleinen Weingut in Südfrankreich alt werden kann.
Meine Leidenschaft, die Zwerge, ist allerdings ein teures Hobby. Man findet mich eher auf Flohmärkten als im Fitnessstudio. Das sieht man mir leider auch an. Was ich zu viel an Bauch habe, fehlt auf dem Kopf. Ich glaube, das ist auch der Grund, weshalb ich bei den Frauen nicht mehr so gut ankomme wie in meiner Jugend. Damals war ich heiß begehrt. Ich wurde sogar fast zum Ballkönig ernannt. Ich bin mir sicher, dass es knapp war – hat mir jedenfalls meine Mitschülerin aus dem Physikleistungskurs erzählt. Ich lese unglaublich gerne Krimis, auch wenn ich dann abends nicht gut schlafen kann und meine Socken anbehalten muss. Das beruhigt mich irgendwie.
Mein Sohn brachte mein gesamtes, ruhiges Leben durcheinander. Ich liebe ihn natürlich, keine Frage, aber er macht es mir manchmal nicht leicht. Seine liebste Beschäftigung ist es beispielsweise, den Garten wie ein Maulwurf umzugraben. Stundenlang sitzt er draußen und buddelt. An guten Tagen singt er laut krächzend. An schlechten schlägt er mit der Schaufel auf Schnecken ein. In dieser Hinsicht sind wir uns nicht ähnlich. Flohmärkte allerdings liebt er genauso wie ich.
Ich erinnere mich ganz genau: Es war das erste Mal, dass er selber als Verkäufer dort war. Als verantwortungsvoller Vater fördere ich ihn immer, wenn es geht. Ich schickte ihn erst letztens in sein Zimmer mit der Anweisung, alles zusammen zu räumen, was er nicht mehr brauchte. Ich weiß nicht, ob er mich richtig verstanden hat, denn es war ein ziemlich voller Sack. Er war so aufgeregt wie schon lange nicht mehr, als wir alles ins Auto packten und losfuhren. Ich baute den Tapeziertisch auf und platzierte die Kisten voller Kleinkram für einen Euro davor. Ole kippte dort alles hinein. Bücher und größere Gegenstände wie Kuscheltiere, Spielzeugautos und Sandkastenkram hingegen kamen auf den Tisch. Selbstverständlich habe ich Ole beim Verkaufen geholfen. Er kann nicht wirklich sprechen und ist sehr schnell abgelenkt und lacht als wäre er das Lustigste der Welt. Nach einer Stunde hatte er schon keine Lust mehr. Ein Wunder, dass er so lange am Flohmarkt interessiert war. Ich blickte ihn liebevoll an und in diesem Moment hörte ich wie zwei kleine Jungs erstaunt und erfreut riefen, dass sie nun endlich Neandertaler spielen könnten. Sie saßen vor den Plastikkisten und ich bemerkte, dass sie mehrere knochenähnliche Gegenstände in den Händen hielten.
Knochen? Das kann ja wohl nicht wahr sein! Mir stockte der Atem und alles fing an, sich zu drehen. Ich sah zu Ole und erinnerte mich an die Tage, an denen ich ihn hin und wieder aus dem Fenster beobachtet hatte, wie er vergnügt im Garten buddelte, ohne zu wissen, dass er dabei anscheinend seine Mutter ausgegraben hatte.
Ich war mir so sicher, dass ich sie tief genug vergraben hatte und sie nicht mehr auftauchen würde. Unter der Hecke durfte er sowieso nicht buddeln. Ich verfluchte mich, dass ich Ole nicht öfter zugeguckt hatte und riss den Jungen, die inzwischen wie Affen hin und her hüpften, die Knochen aus den Händen. Wütend brüllten sie mich an. Ich brüllte zurück. Eine typische Panikreaktion, wie Google mir später mitteilte. Ich schnappte mir die Kisten und lud sie ins Auto. Ole guckte mit offenem Mund zu. Mit dem Versprechen, ihm jetzt ein Eis zu kaufen, schaffte ich es, ihn ebenfalls in den Wagen zu bugsieren und nach ein paar Minuten waren wir bereits auf dem Weg.
Ich bemerkte erst jetzt, wie ich schwitzte. Unter meinen Armen hatte sich eine Pfütze gebildet und meine Krawatte hing schief. Der Gedanke, dass Ole die ganze Zeit unbewusst mit seiner Mutter gespielt hatte, machte mich dennoch glücklich.
Meine Frau hatte mich verlassen wollen, obwohl sie genau gewusst hatte, dass ich nicht alleine sein konnte. Das hatte mein Psychiater bestätigt. Also hatte ich eine Lösung gefunden, wie sie immer bei mir bleiben würde. Wohl behütet unter der Buchsbaumhecke, die ich immer gepflegt habe und pflegen werde. Ich habe mir vorgestellt, dass die Wurzeln etwas von ihr mit dem Wasser aufsaugen würden. Die Gartenzwerge haben ihr und mir Gesellschaft geleistet. Manchmal haben sie sogar mit mir geredet.
Die Fenster sind immer sauber, weil ich ständig vor meinem geistigen Auge die Blutspritzer an ihnen sehe und folglich den Zwang verspüre sie zu putzen. Ich kann nämlich kein Blut sehen. Mein geliebter Sohn Ole wird mich auch nie verlassen. Ich kümmere mich gerne um ihn. Schließlich ist er auf mich angewiesen.
Dafür habe ich gesorgt, als ich ihn als Baby immer wieder untergetaucht habe, bis er einen Hirnschaden erlitt.
Text: Bücherstädterin Lena
Illustration: Buchstaplerin Maike
Ein Fund aus der Todesstadt.
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