Uraufführung des Musiktheaters „Anna Karenina“

von | 26.10.2014 | Stadtgespräch

Bremen – Am vergangenen Samstagabend wurde die Uraufführung des Musiktheaters „Anna Karenina“ gefeiert. Ein multimediales Erlebnis in drei Atmosphären nach dem Roman von Leo Tolstoi. Bücherstädter Alexa und Aaron haben sich das Stück im Rahmen des Projektes „Russische Literatur“ angesehen.

Anna Karenina (russisch: Анна Каренина) ist ein Roman von Leo Tolstoi. Er entstand zwischen 1873 und 1878 und gilt heute als eines seiner besten Werke. Das Buch, erstmals 1877/78 veröffentlicht, spielt im Russland des 19. Jahrhunderts und handelt von Ehe und Moral in der adligen Gesellschaft. Schriftsteller, Regisseur und Stuttgarter Schauspielintendant Armin Petras hat Tolstois Roman 2008 für die Bühne bearbeitet. Für das Theater Bremen haben Thomas Kürstner und Sebastian Vogel „Drei Atmosphären“ zu dieser Bühnenfassung komponiert: ein Musiktheatermaterial für Orchester, Sänger- und SchauspielerInnen.

„Du hast alles noch vor dir.“
„Hast du denn schon alles hinter dir?“
„Nein, das nicht gerade, aber du hast noch eine Zukunft und ich habe nur die Gegenwart, und auch die ist nur soso.“

Wenn einem die Möglichkeiten im Leben als begrenzt erscheinen, erstrahlt die Liebe in einem anderen Licht. Ein Anker, ein Funken, der einem das Leben erhellt und Hoffnung gibt. Liebe, die keine Grenzen kennt, die Glück und inneren Frieden bringt – Anna Karenina (Nadine Lehner) sehnt sich danach, eben jene Liebe zu erfahren und wagt es, ihr Leben als Ehefrau und Mutter dafür aufzugeben. Blind vor Liebe flüchtet sie mit dem Grafen Wronski (Hubert Wild) und gibt sich der Leidenschaft hin. Doch das Glück ist nicht von langer Dauer…

Multimediale Umsetzung

Handlung und Hintergrundinformationen erfahren die Besucher bereits während der Einführung. Es wird auf gewagte Stilmittel (z.B. absichtliche sprachliche Fehler) hingewiesen und das Multimediale erklärt. Schon im Vornherein wissen die Besucher demnach genau, was sie erwartet. Der Umstand, dass diese Stilmittel dem Publikum erklärt werden, lässt den Einsatz der gewagten Stilmittel weniger mutig erscheinen. Dabei hätte das Multimediale nicht weiter erläutert werden müssen, denn bereits beim Betreten des Saals nehmen die Besucher es selbst wahr.
Während sich das Orchester (von den vorderen Rängen aus unter der Bühne zu sehen) einspielt, wallt Kunstnebel über die Bühne. Eine helle Holzplatte steht auf hölzernen Balken etwas weiter im Hintergrund und nimmt die Bühne in ihrer gesamten Breite und Höhe ein. Unter der Holzplatte können die Zuschauer zwischen den Balken (Höhe ca. 1,60 m) hindurch auf den hinteren Teil der Bühne sehen. Auf der Holzplatte wird ein Video in schwarzweiß projiziert. Im Video fährt die Kamera an einer Szene vorbei, in der vier Personen an einem gedeckten Tisch sitzen und die direkt in die Kamera bzw. zum Zuschauer blicken. Dann verstummen die Instrumente, die Videoprojektion wird gestoppt und das Stück beginnt.

Die Schauspieler betreten in ihren Kostümen wortlos die Bühne. Das Publikum applaudiert. Es wird über Lautsprecher die Tonspur eines Regengusses wiedergegeben und auf der Holzwand ein Video projiziert, das diesen Eindruck unterstützt. Fast alle Schauspieler verlassen wieder die Bühne. Drei von ihnen sind hinter den Balken zu erkennen. Lewin (Christoph Heinrich) bleibt mit einer Milchkanne vorne und bringt im Monolog sogleich wichtige Schlagwörter des Stückes hervor: Glück, Freiheit, Wagnis und Verlust. Schon jetzt fällt auf, dass die ungeschmückte Sprache im Gegensatz zu der künstlerischen stimmlichen Darbietung steht. Die Gestik der Figuren wirkt natürlich und ungekünstelt. Es kommt ein Gefühl der Authentizität auf. Etwas befremdlich wirkt der Einsatz der englischen Sprache. Das Stück zeigt die Geschichte „Anna Karenina“ insgesamt aus ihrem zeitlichen Kontext enthoben – somit zeitlos und gleichzeitig aktuell. Englische Einwürfe wie „That’s it“ ziehen die Dialoge in eine sprachliche Einfachheit, die der tiefen, melancholischen Stimmung entgegenwirken, was den Zuschauer stören kann, aber nicht muss. Hin und wieder werden Sätze auf Russisch gesprochen oder gesungen, die russische Sprache bleibt jedoch weitestgehend im Hintergrund.

Die abwechslungsreichen Mittel des Geschehens ziehen den Zuschauer immer wieder in den Bann. Überraschende und beeindruckende Beispiele hierfür: Zusammen mit Dascha (Nathalie Mittelbach) kommt Nebel an den vorderen Rand der Bühne. Die Schauspielerin bleibt stehen, doch der Nebel zieht weiter, hüllt sie ein, dringt weiter vor ins Publikum und bringt den Geruch von Räucherwerk mit sich. Eine andere Situation: Nach 25 Minuten ist auf einmal die Bühne gefüllt mit Schauspielern und Sängern. Acht Paare in großartiger Festkleidung tanzen im Vordergrund. Der Chor singt im Hintergrund. Über das Video sieht der Zuschauer, was hinter den wirbelnden Ballkleidern sonst nicht zu sehen sein würde: die Mimik und Gestik der zuschauenden Kitty (Nerita Pokvytyte). Kurz danach zerbricht Kittys Welt gleichzeitig mit einem lauten 3D-Sound und eines Videos einer zerberstenden Glühbirne.

Botschaften und Moral

Doch auch mit subtileren Mitteln weiß das Stück, Botschaften zu übermitteln. So bleibt die Videoprojektion teilweise ausgeschaltet, während die Holzwand als Fläche für die Schatten der angestrahlten SchauspielerInnen dient. Das Stück wirkt auch nicht gezwungen modern, sondern nutzt die multimedialen Mittel, um im erzählenden Charakter den Inhalt zu vermitteln. In einem großartigen Monolog bringt Stefan (Martin Baum) ein Gleichnis eines gierigen Bauern hervor, der sich unbedacht etwas nimmt, um später herauszufinden, dass dieses Etwas tot ist. Er fragt sich, ob es schon tot war, bevor er es nahm – oder ob es erst starb, als er es hatte.

Die Intertextualität der Darbietung des Inhalts verlangt vom Publikum einen hohen Grad der Empathie ab, jedoch helfen hier die vielfältigen Ideen. Z.B. wird Kittys wahnsinnige Entscheidung zur Heirat mit einer Freeze-Choreographie einiger Doppelgängerinnen begleitet. Oder Wronskis rein körperliche Absichten mit Anna Karenina werden mit Hilfe einer imaginären Sandplastik deutlich gemacht – und anschließend von einer Kunstkritikerin ins Lächerliche gezogen. Ein Video zeigt den schmerzerfüllten Karenin, wie er in der Bremer Innenstadt raucht und sich betrinkt, wodurch etwas aufgezeigt wird, was so auf der Bühne nicht hätte umgesetzt werden können.

Musik

Nicht zuletzt sei auf die beeindruckenden Chöre hingewiesen. Sichtbar setzt sich jedes Chormitglied ins Zeug, was eine grandiose Inszenierung ausmacht. Einmal sogar zu sehr, so übertönt der Frauenchor den Kinderchor, dass dieser kaum zu hören ist. Der Text der Opernsänger wird für alle sichtbar auf eine Wand projiziert, sodass man dem gesungenen Text und somit dem Inhalt gut folgen kann. Die anfangs noch fehlende Atmosphäre russischer Geschichte steigert sich zum Ende hin. So wird die russische Seele noch einmal richtig angesprochen: Die Schauspieler vermischen Pop und Oper und singen voller Emotionen, von Gitarrenklängen begleitet, das Stück „Katjuscha“.

Das Musiktheater „Anna Karenina“ zeigt wie es aussehen kann, wenn Kunst und Literatur verbunden werden. Geboten wird einem ein modernes, multimediales Stück, das ergänzend zum Buch gesehen werden kann, dieses jedoch nicht ersetzt. Das liegt allein schon an der Tatsache, dass ein Roman von knapp 1200 Seiten nicht komplett auf die Bühne gebracht werden kann und demnach viele Kürzungen vorgenommen werden mussten. Die Haupthandlung bleibt allerdings die gleiche.

Termine:
Dienstag, 28. Oktober 2014, 19:30 Uhr
Samstag, 01. November 2014, 19:30 Uhr
Mittwoch, 12. November 2014, 19:30 Uhr
Donnerstag, 20. November 2014, 19:30 Uhr
Dienstag, 09. Dezember 2014, 19:30 Uhr
Freitag, 19. Dezember 2014, 19:30 Uhr
Samstag, 24. Januar 2015, 19:30 Uhr

Weitere Informationen zum Projekt „Russische Literatur“ findet ihr hier.
Fotos: Jörg Landsberg

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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