Unmögliche Dinge…

von | 19.02.2014 | Kreativlabor

„Manchmal denke ich bereits vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge…“ (Alice im Wunderland, 2010)

Bild: morguefile.com

Es ist die erste Nacht, dass ich mit meinen zwei jüngeren Geschwistern alleine zuhause bin. Meine Eltern sind übers Wochenende weggefahren und unsere Großmutter, die in diesen Fällen immer das Kommando übernimmt, kommt erst am nächsten Tag. Wir sind mittlerweile auch wirklich alt genug, alleine zu bleiben: mein Bruder zehn, meine Schwester sechzehn und ich einundzwanzig. Sollte alles kein Problem sein.
Und zunächst scheint es auch so. Mein Bruder schläft noch vor 21 Uhr über seinem Buch ein und auch ich gehe nicht zu spät zu Bett, da meine Schwester am nächsten Morgen Schule hat und samstags gerne ihren Wecker überhört, was dazu führt, dass ich ebenfalls um halb sieben aufstehen und darauf achten muss, dass sie pünktlich das Haus verlässt. Alles kein Problem für mich; ich bin Frühaufsteher und liebe den Morgen.
Um etwa 21 Uhr sitze ich im Wohnzimmer vor dem Kaminfeuer beim Schreiben, als meine Schwester kommt. Sie will sich jetzt, noch um diese Uhrzeit, einen Film ansehen. Ich bin dagegen, am nächsten Tag ist Schule und sie soll wenigstens in einer Nacht einmal genügend Schlaf abbekommen. Sie argumentiert dagegen, meint, sie könne vor zwei Uhr morgens sowieso nicht schlafen, verspricht mir aber, der Film sei spätestens um 22.30 Uhr zu Ende. Ich lasse sie also gewähren und sie zieht sich mit Laptop und Chips in ihr Zimmer zurück.
Bevor ich kurz vor 22 Uhr zu Bett gehe, ermahne ich meine Schwester nochmals, es nicht zu spät werden zu lassen und vor allem, nicht zu laut zu sein. Ich schlafe diese Nacht nämlich mit offener Tür, nur für den Fall, und wenn mein inneres Alarmsystem in Bereitschaft ist, wache ich selbst mitten in der Nacht wegen dem kleinsten Geräusch auf. Immerhin habe ich ja die Verantwortung und man kann schließlich nie wissen, oder?
Ich bin schon fast eingeschlafen, als mir einfällt, dass ich vergessen habe, die Alarmanlage zu aktivieren. Ich erledige das also, gehe zurück ins Bett und wenige Minuten später befinde ich mich schon im Reich der Träume.

Ich wache auf, weil jemand das Licht im Bad anmacht. Mein Zimmer liegt schräg gegenüber und aufgrund der offenen Tür fällt mir der Lichtschein genau ins Gesicht. Jetzt, da ich schon wach bin, beschließe ich nachzusehen, ob meine Schwester ihr Wort gehalten hat. Auf leisen Sohlen tappe ich zum Modem und bin sofort hellwach. Alle Lämpchen des Modems leuchten, es ist eingeschaltet. Ich schaue auf die Uhr. 00:56 Uhr. “You have got to be kidding me“, ist alles, was mir dazu einfällt. Jetzt reicht’s.
Enttäuscht darüber, dass sie ihr Versprechen mal wieder nicht gehalten hat, aber auch ziemlich wütend klopfe ich an die Zimmertür meiner Schwester. Ich gebe ihr nicht die Chance, den Laptop schnell unter ihrem Kopfkissen zu verstecken, sondern öffne noch im selben Moment die Tür. Da sitzt sie, auf ihrem Bett, den Laptop auf dem Schoß, die Kopfhörer in den Ohren.
„Das ist doch wohl ein Scherz“, knurre ich sie an. „Du schaltest jetzt sofort den Computer aus. Und das jetzt gleich, denn ich will wieder ins Bett und will vorher sehen, dass alles ausgeschaltet ist.“
Sie meint gelassen: „Ja, ja, wir lassen es schon.“
‚Wir lassen es schon‘?? Das kann doch nicht wahr sein. Das heißt nämlich, dass sie mit ihrem Freund skypt. Um ein Uhr morgens.
Stinksauer setze ich mich in mein Bett und warte, bis meine Schwester den Computer und das Modem abschaltet. Irgendwie bin ich wütend auf mich selbst, dass ich es nicht wenigstens einmal schaffe, meine Schwester im Griff zu haben. Doch dann fällt mir ein, dass es meinen Eltern oft nicht anders mit ihr ergeht und ich die Tatsache, dass meine Schwester das ausnutzt, wenn meine Eltern nicht da sind, höchstwahrscheinlich nicht persönlich nehmen sollte.
Als wieder alle Lichter aus sind und Ruhe im Haus eingekehrt ist, kommt mir ein genialer Gedanke. Ich traue es meiner Schwester zu, dass sie nur wartet, bis ich wieder schlafe, um wieder weiterzumachen, wo ich sie unterbrochen habe. Also spaziere ich, mit einer Taschenlampe bewaffnet, zum Modem, um es auszustecken und in meinem Zimmer zu verstecken.
Ich finde einen regelrechten Kabelsalat und zig Anschlüsse vor, die ich mir noch nie wirklich näher angesehen habe. Während ich also hier um ein Uhr morgens herumbastele und versuche, nur das Modem, nicht aber das Telefon außer Gefecht zu setzen, muss ich fast über mich selbst und die ganze Situation lachen. Irgendwie finde ich das ganze unglaublich komisch. „Na ja, desperate times call for desperate measures“, denke ich nur und wundere mich einmal mehr darüber, dass mein Gehirn so früh am Morgen, aus dem Tiefschlaf gerissen, nichts Besseres zu tun hat als mit mir auf Englisch zu kommunizieren.
Als ich schließlich wieder im Bett liege, das Modem tief in meinem Schrank versteckt, denke ich, dass ich an kaum einem anderen Morgen schon so viel geschafft habe. Mit einem Teenager fertig zu werden ist nicht leicht und wieder einmal bin ich froh, dass ich noch keine eigenen Kinder und doch noch etwas Zeit habe, darüber nachzudenken, ob ich jemals dazu bereit sein werde. Doch das brauche ich nicht jetzt zu entscheiden.
Während ich im Bett liege, an die Decke starre und in die Nacht hineinhöre, muss ich an Alice im Wunderland denken. Langsam beginne ich zu verstehen, wie schwer es ist, bereits vor dem Frühstück an sechs unmögliche Dinge zu denken. Mit einem grinsekatzigen Lächeln auf den Lippen und den verrückten Hutmacher vor meinem inneren Auge schließe ich die Augen. In meinem Traum falle ich durch ein Kaninchenloch. Der Hase mit der Uhr, der dauernd zu spät ist, kommt mir irgendwie bekannt vor. Er sieht meiner Schwester verdammt ähnlich. Aber das kann doch nicht sein, oder etwa doch?

Silvia

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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