Fünfzehn Jahre alt ist der Protagonist aus Navid Kermanis „Große Liebe“, als er der „Schönsten“ begegnet. Seine Liebe zu ihr ist tief und groß und atemberaubend – bis sie ihn verlässt. Zeichensetzerin Alexa hat sich seine Geschichte angehört.
Unerwiderte Liebe
„Das erste Mal hat er mit fünfzehn geliebt und seither nie wieder so groß. Sie war die Schönste auf dem Schulhof, stand in der Raucherecke oft nur zwei oder drei Schritte entfernt, ohne ihn zu beachten.“ Im Grunde klingt es wie eine vollkommen „normale“ Teenie-Liebesgeschichte, wie sie so oft in Jugendbüchern vorkommt: die unerwiderte erste Liebe, die Verliebtheit, die alle Sinne trübt, die Gedanken, die sich nur um die geliebte Person drehen. Natürlich muss sie ihn ignorieren, denn zu einfach wäre sonst die Liebe. Und wo bliebe dann die Spannung, die nicht nur zwischen den Protagonisten spürbar ist, sondern auch zwischen Geschichte und Zuhörer?
Immer wieder sucht er ihre Nähe auf und beobachtet sie auf dem Schulhof. Doch: „Weil den Schülern der unteren Klassen verboten war, sich zu den Rauchern zu stellen, geschweige denn selbst eine Zigarette anzuzünden, verhielt er sich so unauffällig wie möglich, verhielt sich zwischen den breiteren Rücken wie ein blinder Passagier still.“
Das Leid der Liebe
Schließlich gelingt es ihm doch, die Aufmerksamkeit der Schönsten auf sich zu ziehen und ihr so nahe zu kommen, wie er es sich in seinen Träumen ausgemalt hat. Die körperliche Nähe verstärkt seine Gefühle noch; bald glaubt er, nicht mehr ohne sie leben zu können. Die Phase jedoch, in der die Protagonisten von Glück und Liebe erfüllt sind, ist nicht von Dauer. So tief wie seine Liebe zu ihr, ist auch der Schmerz, als ihn die Schönste verlässt. Spätestens jetzt wird ihm klar: Liebe ist mit Leid verbunden. War es erst die unerwiderte Liebe, ist es nun die Trennung, die ihn leiden lassen.
Liebe ist kitschig
Eine Liebesgeschichte, die sich fast ausschließlich um Liebe dreht – thematisiert wird unter anderem die Friedensbewegung der 80er Jahre –, kann schnell in Kitsch verfallen. Doch wie findet man die richtigen Worte für Liebe, ohne dass es in Gefühlsduseleien und Floskeln endet? Kermani spricht genau dieses Thema an: Liebe ist kitschig – bis sie einen selbst trifft. Dann nämlich verändert sich der Blick darauf, und nicht der Verstand beeinflusst die Gedanken, sondern die Gefühle.
Kitschig ist Kermanis „Große Liebe“ dennoch nicht. Er verzichtet bei seinen Beschreibungen weitestgehend auf klischeehafte Bilder, stereotypisierte Protagonisten und triviales Vokabular. Damit gelingt ihm eine authentische Geschichte, welche die erste Verliebtheit gefühlvoll, aber nicht emotionsüberladen umschreibt.
Für Herz und Ohr
Die Hörbuchfassung liest Christian Brückner – unter anderem bekannt als die deutsche Stimme von Robert De Niro – auf eine ruhige, bedächtige Art, die zum Charakter des fiktiven Erzählers zu passen scheint. Der Erzähler blickt auf seine Jugend zurück und erzählt seine Liebesgeschichte, indem er den ereigneten 100 Tagen jeweils eine Seite widmet. Dass es sich bei dem Protagonisten um den Erzähler handelt, ist relativ schnell klar – die Betrachtung der eigenen Person von außen beziehungsweise die Reflexion machen es ihm allerdings möglich, auch Dinge anzusprechen, die er als Jugendlicher noch nicht hat voraussehen können, und Gedanken zu äußern, für die ihm damals noch die Erfahrungen fehlten.
Der Erzähler der Geschichte und der Sprecher werden in diesem Hörbuch zu einer Person, deren Bild man schon nach wenigen Minuten vor Augen hat. Langsam führt Brückner seine Zuhörer durch die Geschichte und setzt ausreichend Pausen, um Luft zum Mitdenken zu bieten. Genau richtig für einen ruhigen Abend auf dem Sofa.
Große Liebe. Navid Kermani. Sprecher: Christian Brückner. Musik: Saam Schlamminger. Parlando. 2014.
[tds_note]2015 erhielt Navid Kermani den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels! Hier gibt es weitere Informationen. Und hier: www.navidkermani.de[/tds_note]
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