Leben reloaded

von | 09.04.2018 | Belletristik, Buchpranger

Du bist ich und ich bin du… Was, wenn jemand das gleiche Leben führt wie du selbst? Christoph in „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ von Peter Stamm jedenfalls ist überzeugt, einen Doppelgänger zu haben. Ob Worteweberin Annika auch einen hat?

Als alter Mann erinnert sich der Schriftsteller Christoph an einen Wintertag in Stockholm vor einigen Jahren. Dort verabredete er sich mit der jungen Lena, durchwanderte mit ihr die Stadt und damit nimmt die Geschichte Fahrt auf. Christoph hat Lena zu diesem Treffen gebeten, denn er glaubt, sie zu kennen. In ihr erkennt er die Magdalena, mit der er vor fast 20 Jahren zusammen war. Er weiß, wohin sie gehen müssen, glaubt zu wissen, was passieren wird – denn vor vielen Jahren war er schon mal da, in Stockholm, mit seiner Magdalena. Wiederholt sich nun alles? Sind Lena und Magdalena die gleichen? Und wie sieht es mit Christoph und Lenas Freund Chris aus? Führen die beiden Schriftsteller wirklich das gleiche Leben, nur zeitversetzt? Auf dem Spaziergang durch das Venedig des Nordens mischen sich die Zeiten, während Christoph Lena alles über sein und vielleicht auch ihr Leben erzählt.

Vier Leben

Existenzielle Fragen sind es, mit denen sich Christoph auseinandersetzt, seit er eines Tages Chris über den Weg lief und in ihm sein jüngeres Ebenbild erkannte. Seitdem hat er es mit Konfrontation und Davonlaufen versucht, entkommen konnte er seinem Doppelgänger nie. Das Treffen mit Lena könnte die Rettung sein, die Möglichkeit, einzugreifen und das Schicksal der beiden von seinem eigenen zu trennen. Ob Christoph das nur für Lena tut oder auch für sich selbst, bleibt offen.

„Lena dachte lange nach, dann sagte sie, Sie sind ihm zu ähnlich und zu verschieden von ihm. Wenn ich wüsste, wenn ich sicher wäre, dass er einmal so wird wie Sie, dann könnte ich wohl zu ihm zurückkehren. Aber vielleicht kann er nur so werden wie Sie, wenn ich ihn verlasse, wenn sein Leben in die Brüche geht, wie Ihres in die Brüche gegangen ist.“ (S. 147)

Realität oder Fiktion?

Für Christoph verschwimmen aber nicht nur die eigenen Grenzen zu Chris, sondern auch die zwischen Fiktion und Realität: Als er in seinem ersten und einzigen Roman seine Freundin Magdalena und die Beziehung zu ihr beschreibt, ist es schnell aus mit den beiden. Die Frau auf dem Papier ersetzt die aus Fleisch und Blut.

„Zugleich entglitt mir die Realität immer mehr, erschien mir der Alltag langweilig und schal. Meine Freundin verließ mich, aber wenn ich ehrlich bin, hatte ich mich im Kopf schon Monate früher von ihr getrennt, war in die Fiktion entkommen, in meine künstliche Welt.“ (S. 16-17)

Und so stellt sich auch beim Lesen des Romans die Frage, was hier eigentlich Wort- und Gedankengespinst eines alten Mannes ist, und was Christoph tatsächlich passierte. Was ist mit der geisterhaft jungen, nebelhaften Lena an Christophs Bett, die uns im ersten Kapitel des Romans begegnet? Wenn sie nicht echt ist, ist es dann die junge Lena in Stockholm? Und was wurde aus Christophs Magdalena? Christoph erfährt später, dass sie heiratete, und auch die jungen Lena und Chris sind miteinander verheiratet. Zufall, oder nur die sanfte Gleichgültigkeit der Welt?

Der neue Roman ist der siebte des erfolgreichen schweizer Schriftstellers Peter Stamm. „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ ist ein kurzes, aber intensives Abtauchen in das Leben anderer, das viele Fragen offen lässt und eine nachdenkliche Stimmung hinterlässt.

Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt. Peter Stamm. S. Fischer Verlag. 2018.

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