Buchstaplerin Maike hat sich Margaret Atwoods Roman „Lady Orakel“ vorgenommen, der bereits 1976 veröffentlicht wurde. Sie folgt einer Kitschautorin auf ihrem holprigen Weg durchs Leben. Leider stolpert sie beim Lesen auch das ein oder andere Mal.
Kanada in den 1970ern: Die Autorin Joan führt ein Doppelleben. Weder ihr Mann noch ihr Verleger ahnen, dass sie unter einem Pseudonym romantische Groschenhefte schreibt. Ihr eigenes Leben folgt jedoch nicht der geordneten Bahn einer kompakten Liebesgeschichte. Nachdem sie ihren Tod vorgetäuscht hat, lässt Joan die Vergangenheit Revue passieren. Als übergewichtiges Mädchen bekommt sie durch die Erbschaft ihrer ebenso dicken Tante die Chance, ein Leben abseits der strengen Mutter zu führen. Doch stets gerät sie an merkwürdige Menschen, noch dazu steht Joan sich häufig selbst im Weg. Es scheint, als wären ihre Romanheldinnen das einzige, das sie unter Kontrolle hat.
Eine menschliche Heldin
„Ich wusste alles über Flucht, ich war damit groß geworden.“
Zu Beginn weiß Atwood die LeserInnen zu fesseln: Bereits der erste Satz, „Ich plante meinen Tod mit Bedacht“, spielt mit Erwartungen und zwingt zum Weiterblättern. Nach und nach, jedoch nicht immer strikt chronologisch, erzählt Joan als Ich-Erzählerin von ihrer Kindheit bis zu den Ereignissen, die sie dazu gebracht haben, sich so spektakulär aus der Öffentlichkeit zurückzuziehen. Dabei breitet sie ihre Gedanken und Gefühle ungeniert aus. Schwächen, Ängste und Unsicherheiten bestimmen ihr Leben. Mehrere Romanzen, die alles andere als perfekt sind, bringen Joans Leben durcheinander. Und auch Elemente des Magischen Realismus, wie etwa Geistererscheinungen der verstorbenen Mutter, setzen ihr zu.
Atwood gelingt es, Joan auf diese Art sehr menschlich zu zeichnen, ohne sie allzu mitleiderregend wirken zu lassen. Inhaltlich ist eine der größten Stärken des Romans, wie er anhand Joans Kommentaren den Buchmarkt nach und nach seziert. Groschenheft und Hochliteratur werden zu zwei Seiten derselben Medaille. So erscheinen die Kitschromane als Literatur, die die eskapistischen Sehnsüchte des Publikums erfüllen, während der gehobene Buchmarkt nur ans Verkaufen und Vermarkten denkt.
Schnell wird deutlich, welche Funktion die Ausschnitte aus Joans Liebesromanen in „Lady Orakel“ haben: An den perfekt formbaren Heldinnen und ihren tragischen und romantischen Abenteuern spiegelt sich Joans eigenes Leben. Ohne zu viel zu verraten: Zum Schluss wird die Trennlinie zwischen Realität und Fiktion immer undeutlicher …
Inhaltliche und sprachliche Schwächen
Einige Passagen sind heutzutage schwer lesbar. Gerade ein Detail, das für den Roman zentral ist, wirkt störend: Joans Gewicht. Es wäre abwechslungsreich gewesen, eine literarische Heldin zu erleben, deren Übergewicht einfach Teil ihrer Identität ist. Allerdings impliziert der Roman über große Strecken, dass Joan erst als schlanke Frau selbstständig und begehrenswert sein könne. Nicht nur, dass die Erbschaft an die Bedingung geknüpft ist, einhundert Pfund abzunehmen. Auch Joans Aufblühen in jeglicher Hinsicht erscheint als direktes Resultat des Abnehmens. „Lady Orakel“ konstruiert somit aus dem Dicksein einen Schandfleck in der Vergangenheit der Figur, der sie wie ein Gespenst verfolgt.
Doch auch sprachlich kann der Roman nicht immer begeistern. Es ist schade, dass es sich bei dieser Ausgabe nur um eine Neuveröffentlichung einer alten Übersetzung handelt. Aus heutiger Sicht wirkt Werner Waldhoffs Übersetzung aus dem Jahr 1984 verstaubt und lässt sich nicht flüssig lesen. Eine Neuübersetzung hätte dem Roman sicher gut getan, gerade, da Margaret Atwood durch die Serienverfilmung ihres Romans „The Handmaid’s Tale“ wieder in aller Munde ist.
„Worte waren nicht das Vorspiel zum Krieg, sondern der Krieg selbst. Ein hinterlistiger Krieg unter der Oberfläche, der nie ein Ende fand, weil es keine Entscheidungsschlachten gab, keine Niederschläge, keinen Moment, wo man sagen konnte: ‚Ich ergebe mich.‘“
Trotz vieler spannender, bissiger und auch amüsanter Elemente ist „Lady Orakel“ ein Roman, der nicht gut gealtert zu sein scheint. Die überspitzten Diskussionen über Kitsch- und Hochliteratur sind jedoch auch heute noch aktuell.
Lady Orakel. Margaret Atwood. Aus dem Kanadischen Englisch von Werner Waldhoff. Piper. 2017.
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