In „Vom Ende der Einsamkeit“ erzählt Benedict Wells die Geschichte dreier Geschwister, die nach dem Tod ihrer Eltern irgendwie mit den übrigen Bruchstücken ihres Lebens zurechtkommen müssen. Worteweberin Annika hat diesen berührenden, großartigen Roman verschlungen.
Jules und seine Geschwister Liz und Marty wachsen bei ihren Eltern in München auf und verleben eine glückliche, behütete Kindheit. Bis ihnen der Tod dazwischen kommt. Von einen Tag auf den anderen sind die Eltern nicht mehr da und für die drei geht es ins Internat. Jules, der jüngste der drei, hat dort mit einigen Problemen zu kämpfen. Denn plötzlich sieht man ihn nicht mehr als den mutigen, lustigen Jungen, sondern als einen einsamen, schüchternen Waisen.
In Alva findet er eine Freundin, die ihn die ganze Schulzeit lang unterstützt und begleitet, während die anderen beiden Geschwister ihrer eigenen Wege gehen. Doch mit dem Schulabschluss verschwindet auch Alva aus Jules Leben, nur die Gefühle für sie bleiben zurück. Es folgen Jahre mit anderen Frauen, doch keine kann Alva ersetzen. Schließlich begegnet Jules ihr wieder. Inzwischen ist sie verheiratet und scheint für Jules unerreichbar.
„Eine schwierige Kindheit ist wie ein unsichtbarer Feind, dachte ich. Man weiß nie, wann er zuschlagen wird.“ (S.136)
Auch bei Jules und seinen Geschwistern schlagen die Erinnerungen der Kindheit immer wieder zu. Viele Fragen über die Eltern bleiben ungelöst. Für Jules spielt der Gedanke, den falschen Weg im Leben eingeschlagen zu haben, die falsche Version seiner selbst geworden zu sein, eine wichtige Rolle. Lange kann er auf diese Fragen keine Antworten finden und ist unzufrieden mit sich selbst. Was wäre gewesen, wenn…? Der Tod der Eltern und die schwierige Kindheit im Internat hängen wie ein Schatten über Jules gesamtem Leben.
Jules Geschwister, Liz und Marty, finden hingegen jeweils ganz andere Wege, mit dem Verlust der Eltern umzugehen: In den Armen unbedeutender Männer oder im Erfolg in der IT-Branche und der Wissenschaft. Die Geschwister unterstützen sich trotzdem gegenseitig und lernen, füreinander da zu sein. Das ist eine richtige Liebeserklärung an die Kraft geschwisterlicher Bande.
„Ich kenne den Tod schon lange, doch jetzt kennt der Tod auch mich.“ (S.9)
Der Roman ist ein in großen Teilen retrospektiver Bericht des Ich-Erzählers Jules, der nach einem Motorradunfall im Krankenhaus liegt. Nach und nach tauchen beim Kramen in seinem Gedächtnis neue Einzelheiten auf, bis sie sich für die Leser zu einem klaren Bild zusammensetzen, sodass man sich praktisch mit Jules zusammen erinnert. So bleibt die Erzählung bis zum Schluss spannend.
Wells‘ Roman ist bevölkert mit Figuren, die man meint, kennenzulernen, weil sie echte Menschen sind, mit echten Eigenschaften und echten Problemen. Es sind keine löchrigen, blutleeren Figuren, die nur zwischen den Seiten existieren könnten. Das macht die Geschichte unglaublich menschlich. Und es berührt. Schon lange habe ich beim Lesen nicht mehr so mitgefiebert und auch so verzweifelt geweint. Denn Jules ist jemand, dessen Leben zielsicher in Momenten des großen Glücks zerbricht.
„Vom Ende der Einsamkeit“ ist ein toller Roman, den man gelesen haben sollte. Er erzählt eine sehr nachdenkliche Geschichte vom Schicksal, vom Tod und von der Liebe.
Vom Ende der Einsamkeit. Benedict Wells. Diogenes. 2016.
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