Genial? Oder doch nur fast genial?

von | 15.05.2014 | Belletristik, Buchpranger

Francis ist achtzehn und lebt mit seiner Mutter in einem heruntergekommenen Trailerpark in New Jersey. Mit seinem Leben ist er alles andere als zufrieden, weder in der Schule als auch privat läuft es glänzend und er glaubt, als Versager sterben zu müssen. Dass seine Mutter psychische Probleme hat und sie deshalb in einer Klinik landet, macht die Sache nicht besser. Schließlich erfährt er nach ihrem gescheiterten Selbstmordversuch, dass er Teil eines absurden Projekts ist, bei dem geniale Kinder gezeugt wurden. – Von Zeichensetzerin Alexa

„Lieber Frankie,
es ist Zeit, dass du die Wahrheit erfährst. Die Wahrheit über alles. Ich weiß, wer dein Vater ist, ich habe es immer gewusst. Weil ich auch nach Jahren des Überlegens nicht sicher bin, wie ich es dir sagen soll, mache ich es wenigstens kurz. (…) Du warst ein Retortenbaby, Francis. (…)“ (S. 76)

Nach diesem Brief ist für Francis nichts mehr wie es war. Seine Gedanken überschlagen sich, seine Gefühle sind kaum zu fassen. Er soll ein Retortenbaby gewesen sein? Und sein Vater ein genialer Wissenschaftler aus Harvard? Francis fasst bald den Entschluss, seinen Vater aufzusuchen, um dadurch Antworten auf seine Fragen zu finden. Dafür macht er sich gemeinsam mit seinen neugewonnenen Freunden Anne-May und Grover auf den Weg durch Amerika, wo sie verschiedene Menschen aufsuchen, um Hinweise über den Aufenthaltsort seines Vaters zu erhalten.

„Das Wichtigste ist, dass du deine ganzen beschissenen Träume und Hoffnungen packst und sie nie mehr loslässt“, hatte sein Nachbar Toby mal zu ihm gesagt. „Du kannst schreien, du kannst verzweifeln, du kannst winseln. Doch selbst wenn du schon kaum mehr an dich glaubst, du darfst sie nicht loslassen.“ (S. 212/213)

Diese Worte im Hinterkopf sucht Francis weiter, auch wenn ihn so manches Mal die Zweifel aufsuchen und scheinbar dicke Wände ihm den Weg versperren. Auf seiner Reise lernt er Alistair Haley kennen, ein Genie, das genauso gezeugt wurde wie er. Von ihm erfährt er mehr über das Experiment und andere davon betroffene Menschen. Kaum einer von ihnen konnte mit diesem Wissen umgehen, auch Alistair wusste nichts Sinnvolles mit seiner überdurchschnittlichen Intelligenz anzufangen und ist schließlich als Geschäftsführer in einem Restaurant gelandet. Dabei hätte er ein genialer Wissenschaftler werden können. Alistair jedoch ist unzufrieden, würde seine Intelligenz viel lieber verlieren, um nicht jede Kleinigkeit im Leben zu hinterfragen, sich unnötige viele Gedanken zu machen, sondern einfach nur zu leben. Eine Frage, die Francis noch lange beschäftigt ist außerdem: hat auch nur einer der Wissenschaftler, die an diesem Projekt mitgewirkt haben, je daran gedacht, wie sich die Kinder später fühlen würden?

„In der synthetischen Biologie stellt man bereits künstlich Gene her, es kann gut sein, dass man eines Tages Menschen komplett im Labor züchten kann…“ (S. 240)

Wo würde uns das nur hinführen? Die Themen Retortenbaby und Künstliche Gene werden in diesem Roman so gut und philosophisch verpackt, dass man beginnt, darüber nachzudenken, vor allem, weil man weiß, dass es ein solches Experiment tatsächlich gegeben hat. Es beschäftigt einen als Leser genauso wie Francis, der verzweifelt versucht, seinen Platz im Leben zu finden. Denn er glaubt, erst dann zu wissen, wer er ist, wenn er seinem Vater begegnet ist. Dabei stellt sich ihm immer wieder die Frage: was passiert, wenn er seinem Vater gegenübersteht? Wie würde dieser reagieren? Wie würde Francis sich verhalten? Und immer wieder die Zweifel: will Francis seinen Vater wirklich sehen? Würde sich Francis Leben dadurch verändern und er nicht mehr als Versager dastehen, wenn er seinen Vater kennenlernt?

Auch wenn „Fast genial“ einfach und locker geschrieben ist, schafft es Benedict Wells den Leser zu fesseln. Die Charaktere sind so gut ausgearbeitet, dass man im Laufe des Buches glaubt, sie richtig zu kennen, nicht zuletzt wegen der so intensiv dargestellten Gedanken- und Gefühlswelt. Genau der richtige Ansatz bei einem so komplizierten Thema wie diesem. Es beschäftigt einen nicht nur beim Lesen des Romans, sondern auch noch lange danach. Vor allem aber schwirrt einem fast ununterbrochen der Gedanke im Kopf: wie würde man sich selbst an Francis Stelle verhalten?

Fast genial. Benedict Wells. Diogenes. 2013.

 

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

2 Kommentare

  1. Avatar

    So , das Buch kaufe ich mir jetzt. Danke für diesen Tipp! LG Xeniana

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    • Bücherstadt Kurier

      Klasse! Es freut mich sehr, dass ich dich für dieses Buch begeistern konnte! Ich habe mir heute Benedict Wells‘ Roman „Spinner“ bestellt und hoffe, dass es genauso gut ist wie „Becks letzter Sommer“ und „Fast genial“. LG, Alexa

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