„Eine Insel, nur von Gras überzogen, und ein Haus darauf“

von | 07.11.2015 | Belletristik, Buchpranger

Die sehr kleine, isländische Insel „Grimsey“ fungiert als Titel der im Aufbau Verlag erschienenen Novelle von Ulrich Schacht. Aber welche Rolle spielt sie hierbei? Bevor der Autor am 8. November im Rahmen der „LiteraTour Nord“ im Literaturcafé Ambiente in Bremen liest, hat sich Zeichensetzerin Alexa vorab mit dem Protagonisten auf eine Suche nach Antworten begeben.

Eine geheimnisvolle Insel

Es beginnt mit dem Start einer „winzigen Maschine“, einem Fluggerät. Protagonist „Er“ ist ein Mann um die fünfzig, Fotograf und unterwegs für eine Reportage. Einen Tag soll er auf Grimsey verbringen, um dort Fotos zu machen, einer Insel, die nur wenige Kilometer Länge und Breite misst. Nicht verwunderlich ist es daher, dass der Protagonist am Ende seiner Recherchereise den Großteil der Insel gesehen hat. Was ihm bleibt, sind Bilder. Und Erinnerungen. Aber nicht nur von dieser Reise, sondern auch von längst vergangenen Zeiten, aufgerüttelt durch die Begebenheiten auf dieser Insel.
Schacht_Grimsey_rzU1.indd„Er“, dessen Namen man bis zum Ende nicht erfährt, sieht die Natur durch die Augen eines Fotografen: Überall finden sich Bilder, die er festhält, ohne sie vorher zu planen. „(…) aber schon beim Heranholen des Wunders durch das Teleobjektiv spürte er, daß seine Augen etwas anderes sahen als die Kamera.“
Er nimmt die Natur wahr, die Landschaft dieser Insel, fotografiert Vögel: Seevögel, Möwen, Alkvögel. Eigentlich ekelt er sich vor diesen Tieren, aber die Möwen faszinieren ihn. Umso schrecklicher erscheint die Tatsache, dass der Protagonist immer häufiger tote Möwen auffindet, je länger er sich auf der Insel befindet.

Wiederholungen und Symbolik

Auffällig sind beim Lesen Symbolik und Wiederholung. Immer wieder begegnet einem die Farbe Grün: Es ist die Rede von einem grünen Himmel, von grünem Gras und grünen Palmen, von mintgrün gestrichenen Häusern, dunkelgrünen Gummistiefeln und giftgrünem Dickicht. Überhaupt scheinen Farben in diesem Werk eine wichtige Rolle zu spielen, wenn Gegenstände und Landschaftsbilder beschrieben werden. Zu den wiederkehrenden Motiven gehören die toten Möwen, über die sich der Protagonist Gedanken macht, sobald er ihnen begegnet. So werden Themen wie Krieg und Frieden angerissen, Vergänglichkeit und Tod, aber auch Ästhetik. Was hat es nur mit diesen Möwen auf sich? Die Antwort ist naheliegend, doch sobald das Rätsel aufgelöst wird, erscheint sie einem zu einfach.
Farben, Möwen, Bilder sind die leitenden Elemente dieses Werkes. Doch die Wiederholung wird auch sprachlich deutlich: durch den wiederkehrenden Satz „Eine Insel, nur von Gras überzogen, und ein Haus darauf, in das ich gehen kann oder aus dem ich komme, um vor dem Meer zu stehen.“, durch sich wiederholende Gedanken, gleiche Ausdrucksweisen in der Sprache und sehr ähnlich geschriebene Textpassagen.

Der Satz im Satz im Satz

Schachtelsätze sind wohl nichts aufregend Neues. Gerade im Bereich der „anspruchsvollen Literatur“ findet sich so manches Werk, das den Anspruch durch verschachtelte Sätze erhöht. Meist ist das aber auch das einzig Anspruchsvolle am Gesamtwerk. Ulrich Schachts Schreibstil scheint hier jedoch genau richtig zu sein: Es entsteht ein Gefühl von geheimnisvoller Phantastik, einem dichten Nebel gleich, der sich über die Insel legt und die Wahrnehmung trübt. Hierdurch wird der Eindruck erweckt, nicht alles, was sich ereignet, hätte sich auch so zugetragen. Begegnet „Er“ den Möwen wirklich oder bildet er sich das alles nur ein? Warum erscheint einem die Atmosphäre am Hafen so geisterhaft?
Es wirkt, als seien selbst die Begebenheiten auf der Insel wie eine Erinnerung, weit entfernt von der Leserschaft, irgendwo da, wo die Zeit stehen geblieben ist. Die Sätze lesen sich fließend, sobald man das richtige Tempo gefunden hat, doch einfach ist der Zugang zum Text nicht – man muss viel Konzentration und Geduld aufbringen, kleine Pausen einlegen und hin und wieder einzelne Textstellen noch einmal lesen.

Auf der Suche

Mit „Grimsey“ begibt man sich auf die Suche – nach den wahren Gründen für die Rückkehr des Protagonisten, nach Bildern, die die Insel ausmachen und nach dem Ziel – stets mit der Frage im Hinterkopf, worauf das alles hinauslaufen soll. Bis zum Ende muss man sich einem Wirrwarr von Gedanken und Erinnerungen stellen, die Handlung steht dabei im Hintergrund. Auf 189 Seiten wird so manches Thema angerissen, das für Diskussionsstoff sorgen kann, darunter intertextuelle Verweise, die großen literarischen Themen (Liebe, Krieg, Tod) und Moral- und Wertevorstellungen. „Grimsey“ hat vieles zu bieten, wenn man sich auf den Schreib- und Erzählstil einlassen kann.

Grimsey. Ulrich Schacht. Aufbau Verlag. 2015.

Bücherstadt Magazin

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