Ein Schuss vom Dach

von | 19.07.2015 | Kreativlabor

Montags, mittwochs und donnerstags. Vor der Klasse stehen und lehren. Nichts weiter zu sein als ein Vermittler zwischen Schulstoff und leeren Köpfen. Doch die Klasse hört nicht zu und wird nicht wissen. Es ist Frust, der Gabriel erfüllt, seit er meint, seine Arbeit sei zwecklos. Es ist der Frust eines Lehrers, dessen pädagogisches Geschick nicht einmal mehr zum Selbstbetrug ausreicht. Schülerinnen und Schüler motivieren? Für Physik? Chancenlos.

Gabriel erwacht an einem Montag um sieben und würde bloß gerade noch rechtzeitig in den Unterricht kommen. Nicht allein deshalb entschließt er sich dagegen, sich zu beeilen. Er beeilt sich auch nicht, aufzustehen. Der Gang ins Badezimmer ist ruhig und bedacht. Jeder Schritt ist von einem bemerkenswerten Stolz getragen, der ihn bis zur Kaffeemaschine führt und daran hindert, sich zu setzen: Denn ein großer Mann muss stehen.
Mit geschwellter Brust schaut er aus dem Fenster in den angrenzenden Park und sieht Kinder spielen und lachen. Er hätte Grundschullehrer werden sollen, in diesem Alter sind sie noch nicht so verzogen. Der Traum der vergangenen Nacht hat indes ohnehin alles verändert. Der Lehrberuf ist nun zu klein geworden, seine Wünsche zu groß. Er hat ein neues Ziel, eine höhere Aufgabe und vielleicht ist das bloß der Auftakt zu seiner wahren Berufung.
Gabriel geht zügig zu seinem in die Jahre gekommenen VW Passat, steigt ein und fährt los. Der Weg zur Schule ist nicht weit, doch er mag es, zu fahren. Er genießt das Gefühl der Kontrolle über seinen Wagen. Die Ampeln sind rot und sie sind grün, manchmal hält er für einen Radfahrer oder eine Joggerin am Zebrastreifen. Trotzdem meint er, dass ihn nichts aufhalten könnte, und erreicht sein Ziel nach wenigen Minuten. Er steigt aus und geht ins Gebäude. Kaum jemand sieht ihn – und sowieso hat die Stunde schon vor dreißig Minuten begonnen. Wer jetzt noch auf den Gängen ist, ignoriert ihn, oder wirkt befremdet vom starren, direkten Blick des Physiklehrers, der einem einen Schauer über den Rücken jagen könnte. „Gut so“, denkt er sich und freut sich beim Gang in den Schulkeller über seinen Weitblick. Dort unten verbirgt sich nämlich der Raum mit den Fundsachen und gleich daneben ist einer für unerlaubt mitgebrachte Gegenstände.

Er hat sich irgendwann dafür gemeldet, den Schlüssel zu nehmen und sich um alles zu kümmern. Jedes Objekt, das sich an diesem Ort befindet, ist ihm bekannt. So auch die P8 von Heckler & Koch, die ein Schüler unerlaubterweise aus dem Waffenschrank seines Vaters mitgebracht hatte, um vor seinen Freundinnen und Freunden zu prahlen. Das ging jedoch nach hinten los, als die Rektorin ihn erwischte und ihm die Waffe abgenommen hat. Eine Woche ist das nun her. Glücklicherweise, denkt Gabriel, ist der Vater bisher noch nicht da gewesen, um sich dieses Schmuckstück wiederzuholen. Dann greift er zu, steckt die Waffe in seine biedere Altlehrertasche und verlässt den Raum, den Keller, das Gebäude und letzten Endes das Grundstück, ohne dass ihn jemand daran hindert. „Es kommt wie es soll“, murmelt der Physiker und hinterließe alle, die das gehört hätten, mit dieser in eine Schockstarre versetzenden Panik, wie sie sonst nur die schiere Anwesenheit einer Bombe mit sich bringen könnte. Die Zündschnur brennt.

Wieder im Auto führt es ihn zum Ort aus seinen Träumen. Einer belebten und lebendigen Straße. Der Weg ist gepflastert mit kleinen Imbisslokalen, mit Schule, Einkaufszentrum und kleinem Park samt obligatorischem Ententeich. Gabriel steigt aus und sein Weg führt ihn zielstrebig zu einem der an der Straße gebauten Hochhäuser. Ein Klingeln, ein Hallo – er sei der Briefträger – und schon ist er drin. Er wählt ganz bewusst die Treppe, denn er hat noch jede Menge Zeit. Und es scheint ihm, als sei der Aufstieg die perfekte Metapher für diesen Moment.

Dann hat er das Dach erreicht, bewaffnet mit der Gewissheit, das Gute vom Schlechten unterscheiden zu können, und einer Pistole, die das optimale Instrument dafür sein soll. Bereits in seinem Traum hat Gabriel hier oben gestanden und auf die Straße hinabgeschaut. Dort unten sah er dann zwei Personen, von denen er wusste, dass sie großen Schaden anrichten würden, wenn sie niemand daran hinderte. Bei der ersten hat es sich um einen jungen, schwarzhaarigen Mann mit Aktenkoffer gehandelt, die andere ist ein junges Mädchen von vielleicht sechzehn Jahren gewesen.

Im Traumverlauf begleitete er beide nacheinander zu ihren Zielen: Den Mann ins Einkaufszentrum, das Mädchen zur Schule. Und dann passierte es: Dort hat der Schwarzhaarige um sich geschossen, Dutzende Menschen getötet und eine Schneise der Verwüstung durch die Passage gezogen, bis sein Weg von Opfern gepflastert gewesen und am Ende vom finalen Rettungsschuss beendet worden ist. Inmitten des Schulhofes, wo etliche Schülerinnen und Schüler, außerdem die meisten der Lehrkräfte, das sonnige Wetter genossen hatten, sah er dann das Mädchen stehen. An diesem belebten Ort hat sie sich in die Luft gesprengt, die Bombe im Rucksack dabei. Es sind unzählige Opfer zu sehen gewesen und jede Menge Blut. Gabriel hat beides miterlebt und erst einen Augenblick später erfahren, dass es eigentlich gleichzeitig geschehen ist. Außerdem erfuhr er, dass sich die Wege der beiden Personen direkt vor eben diesem Hochhaus kreuzen würden.

Dann hörte er eine Stimme und konnte nicht so Recht orten, von wo aus sie mit ihm sprach. In den letzten Augenblicken des Traumes verkündete sie, er habe nur noch eine Kugel in der Pistole und müsse sich für eine der beiden Situationen entscheiden und töten, wen er für gefährlicher hält. Was auch immer er getan hätte, im Traum hat sich das Drama nicht gänzlich abwenden lassen. Doch zumindest ein paar der Leben zu retten sollte möglich sein. Sein ganz persönlicher Weg zum Heldentum. Der Beruf des Lehrers war schon mit Leichtigkeit verworfen – und sei alles andere noch so verwegen oder wahnsinnig. Nur wenige Augenblicke später trat Gabriel nun an den Dachrand, schaute hinab und folgte dem Sekundenzeiger seiner Uhr, bis es soweit war: der richtige Moment, die Entscheidung, der Schuss. Dann ein plötzlicher Knall – und Gabriel erwachte morgens in seinem Bett.

Doch jetzt ist es Wirklichkeit. Er tritt durch die Tür auf das Dach und holt die Pistole aus seiner Tasche. Obwohl es bis vor wenigen Stunden nur ein Traum gewesen ist, will er sich darauf einlassen. „Was soll’s?“, hat er sich in der ersten Sekunde beim Öffnen seiner Augen gefragt, um daraufhin allen Zweifel wegzuwischen und den Traum für wahr zu halten. Es hat sich so wirklich angefühlt und nun würde er es überprüfen. Schritt für Schritt nähert er sich dem Dachrand, schaut an der Fassade herunter und folgt dem Zebrastreifen auf die andere Seite. Dort sieht er, von links und von rechts, zwei Personen auftreten, die ihm als Verkörperung seiner Traumbilder erscheinen.
Er ist nun fest entschlossen, zu handeln, packt die Pistole fester und macht sich bereit. Es würde anders sein als in seinem Traum: Wie die Rektorin erklärt hat, sei die Waffe scharf gewesen, die Pistole geladen. Er werde mehrere Kugeln haben und nutz… „Verdammt“, entfährt es ihm. Das Magazin enthält nur eine Kugel.

Der Traum ist real bis ins Detail. Nur eine Sekunde, bevor er vor Überforderung auf die Knie fallen und damit seinen eigenen Fall riskieren würde, fasst er sich, fasst seine Gedanken und den Entschluss, fortzufahren. Er schaut nach den beiden, die unten immer näher kommen, zielt und will schießen. Unerfahren wie er ist, zählt er die Sekunden und versucht dabei, alles richtig zu machen. Eins, zwei – und Schuss. Ein Fall. Zu Boden.
Es geht alles sehr schnell. Doch das Mädchen geht weiter und der junge Mann sieht offenbar gestresst auf eine Liste in seiner Hand. Währenddessen steht Gabriel schon selbst nicht mehr. Er ist gefallen, nachdem ein Schuss von einem höheren Dach ihn kurz vor seiner Entscheidung außer Gefecht gesetzt hat. Dort ist noch immer, leicht vermummt, die Silhouette einer offensichtlich sehr gelassenen Gestalt zu sehen. Die Frau, die sich dahinter verbirgt, schaut einen Moment zu seinem fast leblosen Körper, dreht sich dann um und verschwindet durch eine Tür. Ein letztes Atmen entweicht dem ungerühmten Physiklehrer. Unterdessen schauen die beiden Passanten auf dem Weg sich kurz in die Augen, nicken sich zu und gehen weiter – er, mit einem kleinen Mädchen an der Hand, in Richtung Kaufhaus, sie, während sie eine Nachricht an eine Freundin verschickt, zu ihrer ehemaligen Schule.

Björn Knutzen

Diese Kurzgeschichte ist eine von zwölf, die von Studierenden des kreativen Schreibens (Leitung: Sönke Busch) an der Universität Bremen geschrieben wurden. Zwei Vorgaben sollten dabei erfüllt werden: Die Geschichten sollten auf einem Dach spielen und eine Pistole beinhalten. Heute (19.07.15) wurden die Kurzgeschichten auf der „Drei Meter Bretter“-Bühne auf der Breminale vorgelesen. Offizieller Hashtag: #AufDemDach. 

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

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