Ein problematisches Erstlingswerk: „Verschwundene Seelen“

von | 22.06.2016 | Buchpranger, Kinder- und Jugendbücher

Satzhüterin Pia hat sich den Debütroman „Verschwundene Seelen – Die Vergessenen der Wirklichkeit“ der noch sehr jungen Autorin Annika Meyer in dem ebenfalls noch jungen Fabulus-Verlag zu Gemüte geführt. Ein Buch, das Fragen aufwirft: Wie sehr steht ein Roman wirklich für sich und wie sehr lassen wir uns von der Biografie der Autorin beeinflussen?

Verschwundene Seelen

Alina und sechs weitere jugendliche Mitschüler werden auserwählt, das Zauberbuch – das Buch des Lebens – vor den Schattenmenschen zu beschützen. Von den nicht näher benannten „Guten“ werden ihnen übernatürliche Fähigkeiten verliehen. Jeder hat zwei, die sich an den vier Elementen orientieren: Wasser, Luft, Feuer und Erde. Als der Kampf gegen die brutalen Schattenmenschen beginnt, vergisst die Welt, dass Alina und ihre Mitstreiter jemals existiert haben. Jegliche Erinnerungen an sie sind getilgt. Können die sieben jungen Menschen das Zauberbuch beschützen und im Kampf gegen die „Bösen“ bestehen?

Aus alt mach neu: Eine wacklige Geschichte

Die Geschichte hat das Genre Fantasy nicht neu erfunden: Jugendliche Auserwählte bekommen magische Fähigkeiten, um die Menschheit vor bösen Schattenmenschen zu beschützen. Nicht zu vergessen: Sie sehen neben ihren neuen Fähigkeiten nun natürlich auch wunderschön aus.
Wahnsinnig schnell stolpern die sieben Jugendlichen hier in diese neue Welt hinein, hinterfragen nur auf wenigen Seiten, ob das, was ihnen hier gerade passiert, wirklich legitim ist. So wird Alina während des Trainings mit den drei „Guten“ so hart ins Gesicht geschlagen, dass sie fast bewusstlos wird. Sie wehrt sich während der Kämpfe bitterlich und scheint sich über diese Art des Trainings zeitweise zu wundern. Letztendlich aber entschuldigt sie sich und macht alles, was von ihr verlangt wird. Bald schon wird gar nichts mehr hinterfragt.

Aber Leser dürften hinterfragen. Denn gerade eine Fantasy-Welt muss in sich schlüssig sein. Ist eine Geschichte nicht vollends durchdacht, wirft sie Fragen auf, die sie nicht beantworten kann. Lässt sie verschiedene – überirdische/ magische – Dinge einfach so sein, holt der Text mich als Leserin nicht ab. Magie lässt sich in unserer Welt nicht logisch erklären. Aber in einer fantastischen Welt, oder vielmehr besonders in einer solchen Welt, sollte erklärt werden, wie und warum diese Welt so funktioniert. Das passiert bei der 17-jährigen Autorin jedoch nicht. Meyer hat mit 13 nach eigener Aussage „einfach so drauf los geschrieben“ und dies ist deutlich in ihrem Erstlingswerk spürbar.
Auch die obligatorische Liebesgeschichte zwischen der normalen Schülerin, die ausgewählt wurde, und dem unnahbaren Schulschwarm, der natürlich ebenfalls ausgewählt wurde, überzeugt nicht.

Sprachlicher Supergau: Hat das Lektorat geschlafen?

Der holprige Einstieg verläuft sich nicht. Auch nach hundert Seiten bleibt der Stil unerfahren, die Sätze und Formulierungen oftmals platt und gut gefüllt mit Klischees und Phrasen. Die sehr bildhafte und einfallsreiche Sprache zeigt, wie viel Zeit und Mühe Annika Meyer in ihre Geschichte hat einfließen lassen. Lesen lässt es sich dennoch schwerlich. Wiederholungen, syntaktisch merkwürdige oder schlichtweg unvollständige Sätze, sowie Rechtschreibfehler drängen die Frage nach dem Lektorat auf: Hat das Lektorat geschlafen? „Mia schaute sie fröhlich.“, heißt es auf Seite 43. Moment. Sie kann fröhlich schauen oder sie fröhlich anschauen, aber sie fröhlich schauen? Nein. An anderer Stelle wird der Name Luna sechsmal auf acht Zeilen genannt. Eine weitere Seite arbeitet mit insgesamt drei verschiedenen Satzanfängen. Nur drei! Ein Zitat von Seite 25 verdeutlicht die häufigen Wiederholungen im Text:

„Aber sie haben auch diese unheimliche, durchsichtige Farbe. Wenn man das überhaupt Farbe nennen kann.“ Alina konnte sich noch genau an diese durchsichtige Farbe erinnern. Sie war unheimlich.

Das Lektorat hätte hier sehr viel mehr herausholen können – die Geschichte hat das Potential. Ein Blick vorne ins Buch verrät, dass Elmar Klupsch das Lektorat übernommen hat: Ein Mensch mit tollem Werdegang und einer eigenen literarischen Agentur, die Autor und Verlag zueinander bringen soll. Was also ist hier schiefgelaufen?

Erneut auf das junge Alter der Autorin zurückzuführen, ist die Sprache der Figuren. Das mysteriöse kleine Mädchen Lovelyn, welche den jugendlichen Auserwählten in einer Blume aus dem Boden wachsend erscheint und als erklärende Figur fungiert, sagt an einer Stelle an Luna gerichtet:

„Wenn du stirbst, wird sich niemand an dich erinnern. Weder deine Familie, noch deine Freunde, noch sonst jemand … Und jetzt halt einfach mal die Klappe.“

Dies ist bei weitem nicht die einzige Textstelle, an der die Sprache der Figuren einfach nicht zu ihnen passen will. Ben, einer der drei „Guten“, die Alina und ihre Freunde trainieren, sagt auf Seite 77 zum Beispiel: „Ihr habt eine riesengroße, super wichtige Aufgabe aufgebrummt bekommen.“ Flapsiger, jugendlicher Stil bei egal welcher Figur – ob Kind, Erwachsen, mystisch oder normal.
Etwas irritiert zurück, lässt auch eine Szene auf Seite 109, unmittelbar bevor Alina zum Kampf gerufen wird:

Alina stand gerade unter der Dusche, und das heiße Wasser lief über ihren Körper. Sie streckte den Kopf nach oben und spürte das heiße Wasser auf Augen und Lippen niederprasseln. Sie nahm das Shampoo vom Boden und öffnete es. Langsam ergoss sich der weiße dickflüssige Inhalt auf ihre Hand.

Kann ein Roman nur für sich stehen?

Natürlich ist das alles erklärbar und entschuldbar. Die Autorin hat schon mit 13 angefangen zu schreiben und sie hat das Buch schon mit 17 Jahren veröffentlicht. Das Lektorat hat ganz offensichtlich Mist gebaut. In der Literaturtheorie und –wissenschaft ist es jedoch umstritten, die Biografie des Autors bei der Bewertung des Textes mit einfließen zu lassen. Das Werk müsste eigentlich für sich stehen können. Liest man andere Rezensionen zu Annika Meyers Debütroman, wird das Alter der Autorin beinahe durchweg immer genannt – in dieser Rezension ist es nicht anders. So jung, unerfahren und auch leistungsstark die Autorin und die Tatsache, dass sie, Jahrgang 1999, bereits ein Buch veröffentlicht hat, auch sein mögen: Kann das Buch dadurch gleich so anders bewertet werden?

Wenn man mich fragt: Bestenfalls nicht. Die Geschichte hat eine nette Grundidee, aber eine – für mich – katastrophale Sprache und zeitweise auch Umsetzung. Sie hat Ungereimtheiten, Fantasy funktioniert nicht einfach, indem alles einfach so hingestellt wird und zudem viel zu viele Elemente beinhaltet. Die Figuren sind entweder überzeichnet, wie in 08/15-Highschool-Teeniefilmen oder bleiben viel zu blass. Die Liebesgeschichte trägt keine spürbare Chemie an die Leser heran und der flapsige Sprachstil aller Figuren wirkt vollkommen fehl am Platz.
Als ich zu lesen begann, wusste ich nicht, wie alt die Autorin ist, aber es hat mich nicht überrascht, als ich es dann erfuhr. Vielleicht hätte Annika Meyer noch ein paar Jahre mit der Veröffentlichung warten sollen. Es ist eine ungesunde Mischung aus Neugierde, wie die Geschichte weitergeht und Neugierde, welche Fehler und unschöne Formulierungen noch zu finden sind, die mich beim Lesen vorangetrieben haben. Bis zum Ende hat es leider nicht gereicht.

Verschwundene Seelen – Die Vergessenen der Wirklichkeit. Annika Meyer. Fabulus Verlag. 2016.

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