Cornelia Funke

von | 24.04.2015 | Buchpranger, Im Interview, Stadtgespräch

„Für mich ist diese Welt eine Liebeserklärung an die Vielfalt unserer Welt.“

Zum dritten Mal verschlägt es Cornelia Funke hinter die Welt der Spiegel: Zur Veröffentlichung von „Reckless – Das goldene Garn“ hat die erfolgreiche deutsche Autorin mit Bücherstädterin Ann-Christin gesprochen.

BK: Frau Funke, lesen Sie selbst gerne Märchen?

CF: Inzwischen ja. Als Kind hab ich sie nicht gemocht – und doch ständig eine kratzige LP mit Märchen gehört und zwei Bücher mit Märchen als großen Schatz betrachtet. Ich habe wohl schon damals gespürt, dass da mehr drinsteckt als man auf den ersten Blick liest.

BK: Das Schema von Gut und Böse aus der Märchenwelt passt nicht auf die Reckless-Reihe. Ist es eine Hommage an die Ursprünge vieler Märchen und Mythen oder eine Abkehr von den Vorlesegeschichten für Kinder?

CF: Die Spiegelwelt ist sicher für ältere Leser geschrieben als Drachenreiter, aber Abkehr würde ich das nicht nennen. Kinder, die sich nicht vor kinderfressenden Hexen fürchten und romantische Verwicklungen nicht allzu langweilig finden, sind herzlich willkommen! Ich schreibe immer für alle Alter. Was die Märchen betrifft – die Spiegelwelt ist ja eine Welt, in der unsere moderne Zeit gerade aus dem Ei schlüpft. Die Märchen verkörpern da all das, was verloren geht, im Guten wie im Schlechten. Vorindustrielle Landschaften, Städte, Herrschaftsstrukturen, die Verbundenheit, aber auch das Ausgeliefertsein an die Natur… von all dem sprechen unsere Märchen ja. Wir finden vergessene Götter in ihnen, vergessene Völker, aber oft auch viel über das, was ein Land und Volk geprägt hat.

BK: Die Brüder Jacob und Will Reckless beschäftigen sich in „Das goldene Garn“ besonders mit ihrer inneren Zerrissenheit und einer Vielzahl von Erwachsenen-Problemen. War Ihnen von Anfang an klar, wie beschwerlich der Weg der Reckless-Familie werden und wie weit die Brüder auseinander driften würden?

CF: Ich weiß nie, wo eine Geschichte hinwill. 🙂 Und ich glaube eigentlich nicht, dass meine Helden es in irgendeinem Buch von mir einfach haben. Mo und Staubfinger reisen sicherlich auf keinem leichteren Weg als Jacob und Will, oder? Aber vielleicht empfinden viele Leser die Spiegelwelt als ‚erwachsener’, weil es eine modernere Welt ist und meine Helden Menschen unserer Zeit sind? Und dann kommt natürlich hinzu, dass ich älter werde und meine Kinder ebenso.

BK: Die Bücher beschäftigen sich mit Märchen aus aller Welt. Während es in „Steinernes Fleisch“ vor allem um die Grimmschen Märchen ging, „Lebendige Schatten“ einen Abstecher nach Frankreich unternahm, steht nun russische Folklore im Mittelpunkt. Wie wählen Sie die Märchenvorlagen aus und haben Sie kulturelle Unterschiede dabei entdeckt?

CF: Ich habe vor, hinter den Spiegeln einmal um die Welt zu reisen. Was hieße: Buch 4 Asien, Buch 5 Amerika, Buch 6 Afrika. Aber… meine Geschichten halten sich selten an solche Pläne. Für mich ist diese Welt eine Liebeserklärung an die Vielfalt unserer Welt. Was die Unterschiede betrifft: o ja, natürlich! Märchen sind phantastische Reiseführer – man sollte eigentlich immer ein oder zwei lesen, bevor man ein neues Land besucht. Landschaften, Geschichte, Wertvorstellungen, Träume und Ängste einer Region… sie sind Schatzkisten, gefüllt mit all dem. Und dann gibt es natürlich auch die Motive, die man in allen Märchen der Welt findet und die uns daran erinnern, wie sehr wir uns bei aller Unterschiedlichkeit gleichen – etwas, an das es in dieser Zeit wieder einmal unendlich wichtig ist zu erinnern.

BK: Und wie wirkt sich die Zusammenarbeit mit dem Filmproduzenten Lionel Wigram auf die Auswahl der Märchenmotive aus? Sie haben einmal in einem Interview erzählt, dass die Vatersuche dadurch stärker in den Fokus gerückt sei.

CF: Lionel hat nur am ersten Buch intensiv mitgearbeitet. Beim zweiten hat sich das schon auf ein paar (anregende) Gespräche beschränkt, und seit mehr als drei Jahren arbeite ich allein an der Spiegelwelt.

BK: Ritter und Prinzessinnen? Fehlanzeige in Reckless. Jacob besitzt einige Makel, er will gar kein Held sein, ist rastlos, windet sich mit Tricks aus der Schlinge oder springt von der Schippe des Todes. Weshalb bevorzugen Sie die Grauzone, in der sich Jakob, Fuchs und die anderen immer wieder bewegen?

CF: In der Spiegelwelt sind Märchen historische Wirklichkeit. Das heißt, dass sie nicht von Archetypen, sondern echten Menschen erlebt werden. Zusätzlich befindet diese Welt sich im Umbruch UND Jacob stammt aus unserer Welt und dem 21. Jahrhundert. Für mich macht es den Reiz dieser Welt aus, dass ich mit all diesen Elementen spielen kann – und dass Jacob all diese Widersprüche verkörpert.

BK: Und dann wäre da noch Jacobs kleiner Bruder Will. Ein gutmütiger Kerl, von der Statur eines potenziellen Märchenhelden. Er bringt die Geschichte ins Rollen, als er in Band eins die Spiegelwelt betritt und durch einen Zauber zum Goyl wird. Interessant ist aber, dass er dort immer wie ein Fremdkörper wirkt: Obwohl er ein Hauptcharakter ist, tritt er kaum als Kapitelerzähler auf. Sie beschreiben ihn häufig aus den Augen Ihrer anderen Figuren. Was ist der Sinn dahinter?

CF: Will versteckt sich gern. Vor sich selbst – aber auch vor mir! Ich kann es nicht erwarten, herauszufinden, was noch aus ihm wird. Ich glaube, in Buch 3 ist er sich selbst etwas näher gekommen, aber wir werden sehen. Und ja, ich glaube, er hat tatsächlich das meiste Potential zum klassischen Märchenhelden. Sie sind ja oft naiv, unschuldig, blind… um dann wahren Heldenmut und sogar Weisheit zu beweisen.

BK: Dass in Ihren Büchern viele unterschiedliche Figuren zu Wort kommen ist allerdings nichts Neues. Bereits in Drachenreiter oder der Tintenblut-Trilogie erzählen auch Bösewichte. Was ist ihr Erfolgsrezept, damit es spannend bleibt, obwohl der Leser in die Pläne Ihrer Schurken eingeweiht ist?

CF: Ich habe kein Rezept. Das wäre ja entsetzlich langweilig. Für mich und meine Leser. Ich hoffe, ich höre auf zu schreiben, wenn ich die Lust verliere, es immer wieder ein bisschen anders zu machen.

BK: Wie behalten Sie bei all den Figuren und Perspektiven eigentlich den Überblick? Planen Sie vorher genau, wer welches Kapitel erzählt oder entsteht es im Schreibfluss? Hat sich dabei schon einmal ein Charakter als Erzähler aufgedrängt, der nur für eine kleine Rolle vorgesehen war?

CF: Ja, das ändert sich alles ständig während des Schreibens. Oft plane ich, nur um dann alles umzuwerfen. Ich schreibe jedes Buch mindestens sechs Mal um, oft öfter. Es kommen Figuren hinzu, Perspektiven wechseln, hundert Seiten fliegen raus…

BK: Wenn Sie sich eine Welt, in der Sie leben könnten, aussuchen, würden Sie sich für die Tintenwelt oder ein Leben hinter den Spiegeln aus Reckless entscheiden? Welche Vorzüge hätte die eine oder die andere? Welche wäre die grausamere?

CF: Ich glaube, die Tintenwelt wäre gefährlicher für mich. In einer mittelalterlichen Welt würde man mich sicher als Hexe verbrennen. 🙂 Und ich glaube, der Spiegel reizt mich sehr, weil ich da leichter vor und zurück könnte. Ich liebe unsere Welt und Zeit und habe eigentlich kein Bedürfnis, sie allzu lange zu verlassen. Andererseits würde ich natürlich gern mal einem mittelalterlichen Buchmaler zusehen!

BK: Stimmt es, dass Sie gerade an einer Fortsetzung von Drachenreiter arbeiten? Können Sie schon etwas verraten? Werden wir alte Bekannte, wie den Drachen Lung, seinen Reiter Ben oder das Koboldmädchen Schwefelfell wiedersehen?

CF: Ja, das stimmt. Mein Arbeitstitel ist DIE FEDER EINES GREIFS und alle vertrauten Figuren werden vorkommen. Und viele neue.

BK: Gibt es noch andere Projekte, die Ihnen im Kopf herumschwirren?

CF: O ja. Ich arbeite seit Jahren parallel an anderen Projekten – meist Kurzgeschichten, Kollaborationen mit visuellen Künstlern oder Musikern – das macht die eigene Arbeit so viel reicher. Zurzeit bereite ich zusätzlich eine Kurzgeschichte zu einer Ausstellung des Getty Research Institutes über Ludwig den Vierzehnten vor. Außerdem habe ich zugesagt, dem Günter Grass Haus Texte zu schreiben, die jüngeren Besuchern die Ausstellung und das Werk und Leben von Grass näher bringen. Und… ich arbeite an einem Bilderbuch, als Schreiberling und Illustratorin.

BK: Und zum Abschluss: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Buch – welches wären Sie?

CF: Oh, wunderbare Frage! Ein Abenteuerbuch, wie die Schatzinsel oder Die Brautprinzessin von William Goldman.

Dieses Interview erschien erstmals in der 16. Ausgabe des Bücherstadt Kuriers.
Foto © Dressler / Joerg Schwalfenberg

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