Am Ende der Gleise

von | 31.01.2018 | Kreativlabor

Sie besah sich den Koffer, welcher schon im Abteil stand. Ihre Mutter, bereits reich an Jahren, ließ sich darauf nieder, denn andere Plätze gab es nicht. Es war ein Waggon, in welchem wohl Vieh befördert wurde, er war nicht für Menschen gedacht. Ursprünglich war es vielleicht so gewesen, doch Zeiten ändern sich, alles ändert sich.

„Wird’s bald?“, schnarrte eine Stimme an ihrem Ohr, riss sie aus den Gedanken. Ohne zu antworten ergriff sie die Hand ihres Mannes und ließ sich hinaufziehen. Nach ihr folgten weitere Menschen; Passagiere, wie die Wächter sie nannten. Bald war der Wagen voll, und mit einem endgültig klingenden Schlag wurde die Tür zugeschoben. Keiner von ihnen hatte sich geweigert einzusteigen, denn sie wussten, dass die Wächter bewaffnet und einem Zwischenfall nicht abgeneigt waren. Zumindest, so dachte sie, war sie hier den Soldaten losgeworden, der sie die gesamte Hinfahrt wie eine Trophäe erobern wollte.

Der Waggon setzte sich in Bewegung. Sie fuhren mehrere Tage, nur unterbrochen, wenn ihnen ein paar Flaschen Wasser hingeworfen wurden. Es war den Wächtern egal, ob sie ausreichten – die Menschen sollten lediglich ankommen. Durch die kleinen Fenster nahe des Dachs sahen sie die Tage kommen und gehen. Ab und an fiel Regen hinab, aber sie waren bereits froh, wenn sie frische Luft spürten. In dieser Trostlosigkeit, ohne Abwechslung, schwanden bald die ersten Kräfte. Kinder, die von allem nichts verstanden, schrien, während Alte sich vor Erschöpfung niederließen und allein nicht mehr aufstanden. Sie selbst saß mit ihrem Mann in einer Ecke und versuchte es dort der kranken Mutter so bequem wie möglich zu machen. Die alte Frau schlief fast nur noch, in den wachen Momenten redete sie so manches Mal wirr. Er dagegen sprach von Flucht beim nächsten Halt, doch sie wollte ihre Mutter nicht dem Schicksal überlassen. Eine Weile ging es so hin und her; die anderen Menschen kümmerten sich nicht um sie.

Dann stoppte der Zug erneut. Statt der Wasserflaschen gab es gebrüllte Kommandos außerhalb, jemand brüllte zurück, schlug im Vorbeigehen gegen ihre Tür. Diese antwortete mit einem leisen Klirren, in dessen Folge ein schmaler Streifen Licht sichtbar wurde. Beide sahen ihn. Sie küsste ihre Mutter noch einmal bevor sie sich erhob und zusammen traten sie vor. Immer noch waren auf der anderen Seite Stimmen zu vernehmen, nicht mehr in der Nähe, aber sie waren da. Obwohl seine Hände bereits auf dem Holz lagen, wagte keiner den letzten Schritt, spürte stattdessen, wie die Räder sich in Bewegung setzten. Langsam nahmen sie Fahrt auf. Wortlos stieß sie die Tür auf, sah nur kurz in die Landschaft und sprang. Einen Atemzug später landete sie zwischen den Büschen. Ungebremst rollte ihr Körper durch das teilweise verholzte Gestrüpp, welches rote Striemen auf ihrer Haut hinterließ. Beinahe ungehindert schoss sie hinab. Mit den Händen versuchte sie ihr Gesicht zu bedecken, presste die Arme eng an sich. Die einzelnen Zweige schlugen gegen ihren Körper. Der Abhang nahm scheinbar kein Ende. Im Gestrüpp neben ihr gingen dazu vereinzelte Schüsse nieder, deren Nähe sie den Atem anhalten ließ.

Immer wieder knallte es. Immer wieder vernahm sie die nahen Einschläge. In einem ausgetrockneten Wasserloch kam sie endlich zum Liegen, drückte sich dicht an den Boden in der Hoffnung unsichtbar zu werden. Schweres Rattern und ein greller Pfiff verrieten, dass der Zug an Fahrt gewann. Bald würde er den Damm verlassen, bald ganz am Horizont verschwinden. Sie blieb liegen. Presste sich weiter an den Boden. Irgendwann war das Knattern ganz verstummt, in der Umgebung erklangen nur ein paar Vogelrufe. Zögerlich hob sie den Kopf, um über den Rand des Erdlochs zu spähen, rechnete jederzeit mit dem Knall eines Schusses. Doch der blieb aus. Auch als sie sich langsam erhob, erfolgte kein Angriff. Eilig zog sie sich in eine Gruppe kleiner Bäume zurück, zupfte an der Kleidung und besah sich die Schrammen auf ihren Armen und Beinen. Noch bevor sich ihr Atem wieder beruhigte, rief sie nach ihrem Mann in der Hoffnung, dass er gefolgt war. Sie rief erneut, hoffte dabei, ihn unversehrt wiederzufinden. Als die Antwort endlich kam, setzte ihr Herz für einen Augenblick aus und sie warf die Arme um ihn, drückte ihn fest an sich. Er sah genauso zerschunden aus wie sie, aber er lebte.

Die Stille der Lichtung war befreiend, aber auch beängstigend. Einen Augenblick sah sie dem verschwundenen Zug nach, in welchem ihre Mutter dem Schicksal entgegenfuhr. Ebenso wie all die anderen Menschen, deren Leben von den Launen der Wachen abhing. Auf einmal wollte sie nur weg; diese Gegend ekelte sie an. Tränen liefen über ihr Gesicht, wurden von ihm sanft weggewischt. Er lächelte sie an, während sich ihre Hände fanden. Noch einmal blickte sie zu den Gleisen zurück, glaubte dabei für einen Moment die Stimme ihrer Mutter zu hören, welche Balsam und Qual zugleich war. Er zog sie vorwärts in einen lichten Wald. Dort fanden sie einen Platz und genossen die Möglichkeit der Erholung. Immer wieder floss eine Träne über ihr Gesicht. Aber sie bestätigten sich ihre Kraft und den Willen gemeinsam das Kommende durchzustehen.

Er erinnerte sie noch einmal an das herrliche Essen, welches auf dem Tisch gestanden hatte, als sie gekommen waren. Mit der Faust hatte einer der Soldaten gegen die Wohnungstür geschlagen, gerade als seine Frau ihm etwas erzählen wollte. Danach ergossen sie sich wie eine Flut in die Wohnung, öffneten die Schränke und Türen, schätzten die Bilder an den Wänden. Die drei Bewohner durften die Stube nicht verlassen bevor ihnen verkündet worden war, dass sie in zehn Minuten abfahren sollten. Sie durften einige Sachen packen, um dann auf die Ladefläche eines LKW verfrachtet zu werden. Bereits an diesem Punkt fühlte sie sich wie auf einem Viehtransport, denn es wurden immer mehr Menschen aufgeladen, sodass Freiraum schließlich nur noch ein Wort und Abstand eine Illusion war. Je näher sie dem Bahnhof kamen, umso mehr schrumpfte die Hoffnung.

Nun saßen sie irgendwo in einem Wäldchen und zuckten bei jedem Geräusch zusammen, hielten sich die Arme schützend über den Kopf, als ein weiterer Zug vorbeifuhr. Zwischen all den Augenblicken fand sie irgendwann die Kraft, ihm die anderen Umstände zu beichten, in denen sie sich befand.
In der folgenden Zeit wanderten sie bei Nacht und ruhten am Tag. Als ihr Bauch so gewachsen war, dass sie nicht mehr weiter konnten, blieben sie auf einem Bauernhof als Magd und Knecht. Das Bauernpaar fragte nicht viel und in der Abgeschiedenheit des Hofes kamen nur selten Soldaten vorbei. Meist waren es dieselben und irgendwann vertrauten diese den Bauern so, dass sie nur selten nach dem Rechten sahen.

An einem Tag im Sommer war es wieder soweit und die Soldaten besuchten den Hof. Sie wollte ihnen, wie sie es immer musste, Getränke und eine Mahlzeit bringen. Die Soldaten gingen gerade an ihrer Tochter vorbei, die im Wagen im Hof stand, als einer von ihnen den Kopf drehte, um in den Wagen zu schauen. Anschließend nickte er der Bäuerin zu, wohl in der Annahme, es sei ihr Kind. Ihr Magen zog sich zusammen, schien die Kraft aus ihrem Körper zu ziehen. Zum Schutz des Kindes wusste keiner, dass sie die Mutter war. Normalerweise war es ihr egal, doch das Gesicht dieses Soldaten war ihr zu vertraut. Aus unzähligen würde sie es erkennen; jedoch hoffte sie, dass es andersherum nicht so war. Vielleicht war er damals noch weiteren Frauen hinterhergestiegen, wollte noch andere ins Bett bekommen. Sogar einen gefälschten Pass mit reinem Blutstatus hatte er ihr versprochen. Ob er es auch gehalten hätte, vermochte sie nicht zu sagen.

Nun sollte sie hier wieder auf ihn treffen, konnte aber keinen weiteren Schritt gehen und stand, sich am Tablett festkrallend, an der Häuserecke. Irgendwann nahm die Bäuerin ihr die Last ab und schob sie in den Schatten. In diesem schlich sie sich ins Haus, denn sie wusste, dass er bei ihrer Abfahrt dabei gewesen war. Sie durfte eigentlich nicht hier sein und er durfte das nicht wissen.
Im Haus gab es viel zu tun, worüber sie die Soldaten vergaß, bis hinter ihr eine Tür klappte. Er kam um die Ecke, stand ihr grinsend in der Küche gegenüber, nur der Tisch war ihm noch im Weg. Obwohl er sich noch klar artikulierte, konnte sie an seinen Augen sehen, dass er dem Alkohol bereits gut zugesprochen hatte. Ein paar Runden drehten sie um den Tisch, dabei nannte er sie „Mäuschen“ oder „Liebling“, er erkannte sie aber offenbar nicht, denn er sagte dieselben Worte wie damals. In der folgenden Runde lief sie zur Tür und hinüber in den Stall, wo sie sich auf dem Heuboden verbarg. Von dort beobachtete sie, wie er das Haus verließ und sich den Kameraden zuwandte. Sie blieb bis es dämmerte und die Männer vom Feld kamen.

Die Tage zogen vorbei. Oft flogen Flugzeuge über sie hinweg und erzeugten nahe Explosionen. In solchen Momenten sah sie zum Himmel und war in Gedanken bei ihrer Mutter. Die Ungewissheit ihres Schicksals fraß sich tief in sie. Dann, eines Tages, kamen keine Flugzeuge mehr. Auch am nächsten Tag nicht. Die gesamte Woche blieben sie aus. Es gab Gerüchte, dass Frieden beschlossen war und da weder Soldaten noch Explosionen kamen, fingen die Menschen an, es zu glauben und begannen, die Spuren der Zerstörung zu beseitigen.

Jahre waren vergangen, als sie in einer Zeitung auf eine Liste stieß. Umrandet mit schwarzen Blumen ehrte diese all die, welche die Waggons damals nicht lebend verlassen hatten. Ihr Finger zitterte, als sie die Spalten entlangfuhr; die Namen waren nach Datum sortiert und je näher sie dem eigenen kam, umso langsamer wurde sie. Nach einer gefühlten Ewigkeit strich sie über den Namen ihrer Mutter, hatte diese doch ihren Frieden gefunden und musste die Qualen nicht ertragen. Sie saß einfach nur da, Tränen flossen und der Blick klebte auf dem so vertrauten Namen. Plötzlich legte sich eine kleine Hand auf die ihre, verdeckte den Eintrag. Die jungen Augen, welche vom Krieg nur die zerstörten Landschaften kannten, blickten sie tröstend an. Wortlos nahm sie ihre Tochter in den Arm, konnte ihr nun erklären, warum sie nie wieder eine Eisenbahn besteigen würde.

Sanna Renner, Twitter: @chaoskraehe
Foto: Geschichtenzeichnerin Celina

Ein Beitrag zum Projekt 100 Bilder – 100 Geschichten – Bild Nr. 28.
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