Die Winkekatze
Am Heiligabend stand Anneliese vor dem Schaufenster eines Asia-Ladens und betrachtete die Auslagen: Fächer, Teeservice, Ginseng-Liköre, bunte Plastik-Buddhas — und in deren Mitte, eine goldene, winkende Katze. Anneliese verzog die Mundwinkel. Wieder einmal hatte sie es nicht geschafft, für Timmy rechtzeitig ein Geschenk zu besorgen. Wie immer auf den letzten Drücker! Schon jetzt konnte sie die hinter halb vorgehaltenen Händen gezischelten Kommentare der Familie ihres feinen Schwiegersohns Peter, insbesondere von Oma Karla, hören: »Anneliese, die Raben-Oma! Denkt ja doch nur an sich!« Dabei hatte sie sich diesmal fest vorgenommen, es besser zu machen, sich wirklich ein schönes Geschenk für ihren Enkel einfallen zu lassen. Doch wieder kam es anders …
Noch einmal blickte sie auf die bunten Buddhas und die winkende Katze, wollte eigentlich gehen, doch der Zeitdruck ließ sie ihre Hand nach der Klinke ausstrecken. Rechts, an einer alten Kasse, saß der in mattes Neonlicht getauchte Verkäufer und tippte geistesabwesend auf seinem Handy herum. Leise drückte Anneliese sich an ihm vorbei. Vorbei an den Regalen mit den Porzellan-Elefanten und Klangkugeln, vorbei an den seltsamen Süßigkeiten, den Essstäbchen und den Reiskochern. Erst jetzt fiel ihr der beißende Geruch auf: Sie musste an ihre damalige Arbeit denken, als sie sich um die Bahnhofstoiletten zu kümmern hatte. Mit eingezogenen Schultern lief sie weiter. Am Ende des Gangs stand ein Regal mit Spielzeug. Etwa ein Dutzend Plastikkatzen winkten ihr vom oberen Regalboden aus zu. Irgendwie fühlte sie sich dadurch an ihre Schwieger-Familie erinnert. Timmy … Ob sie Timmy eine Winkekatze schenken sollte? Würde er sich darüber freuen? Sie nahm einen der Kartons; ihre Augen irrten durch das Labyrinth der chinesischen Schriftzeichen. Dort! 4,95€ … Anneliese strich langsam über das rote Preisschild. Mit einem flauen Gefühl im Magen ging sie zur Kasse. Müde blickte der Verkäufer auf und sprach mit asiatischem Akzent: »Winkekatze, ja? 6,95€!«
Anneliese überlegte, ihn auf den zu hohen Preis hinzuweisen. Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Schnell legte sie 7€ auf die Theke und huschte, ohne das Wechselgeld abzuwarten, aus dem Laden. Sie schluckte schwer und machte sich auf den Weg zur Weihnachtsfeier.
Sie saßen im Wohnzimmer und blickten auf Timmy, der vor seinem Gabentisch stand und ganz aufgeregt mit den Armen fuchtelte. Von Anneliese nahm, wie
immer, niemand Notiz — außer ihrer Tochter Silvia, die ihr wenigstens einen Stuhl hingestellt hatte. Voller Erwartung hielt Timmy einen in rotes Geschenkpapier verpackten Karton in den Händen und wandte sich seinen Eltern zu.
»Nein nein. Das ist von mir!«, meldete sich lauthals Oma Karla und blickte in die Runde.
Timmy riss den Karton auf, und zum Vorschein kam …
… eine Winkekatze!
Anneliese stockte der Atem.
»Na? Na?«, rief Oma Karla und presste selbstgefällig ihre Lippen zusammen. »Gefällt sie dir?«
Timmy sah enttäuscht auf das winkende Stück Plastik, zuckte mit den Schultern und ließ es auf den Boden fallen. Dann griff er nach dem nächsten Karton. Oma Karla lachte hysterisch auf und stürmte aus dem Zimmer. Timmy’s Vater lief hinterher.
»Ich versteh‘ das einfach nich‘!«, hallte es aus dem Flur. »Es war doch — perfekt! Versteh‘ den Jungen nich‘! Undankbarer … Versteh‘ ich einfach nich‘!«
»So beruhig dich doch, Mutter! Er meint es ja nicht böse.« »Nein nein nein!«, keifte Oma Karla.
Die Wohnungstür knallte. Schritte. Peter kam aus dem Flur zurück.
»Tja, …«, sagte er. »Oma Karla wartet dann mal im Auto.«
Anneliese dachte an die Winkekatze in ihrem Beutel, der immer noch unter ihrem Stuhl lag. Leise lächelte sie vor sich hin. Mit dem Fuß schob sie den Beutel weiter nach hinten. Timmy hatte mittlerweile schon die meisten seiner Geschenke ausgepackt.
»Timmy?«, sagte Anneliese; der Kopf des Jungen lugte aus dem Geschenkpapier hervor. »Möchtest du mit der Oma nächste Woche mal in den Zoo gehen? Da gibt es echte Katzen. Riesenkatzen …«
Timmy strahlte über das ganze Gesicht. »Ja, Oma! Ja!«
Irgendjemand musste Timmy‘s Winkekatze aufs Fensterbrett gestellt haben, von wo aus sie freundlich auf die Straße hinaus winkte. Anneliese stellte sich vor, wie Oma Karla vom Auto aus das winkende Teil verächtlich beobachtete.
F.A. Peters
Eine sehr schöne Geschichte. Zeit die man gemeinsam verbringen kann, ist das beste Geschenk.
Danke an den Autor