Aber Hier Leben, Nein Danke

von | 18.07.2015 | Kreativlabor

Gastautor Paul findet: Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk.[1]

Und werden es auch niemals sein
Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk
Was bildest du dir ein?
Was nicht ist, kann niemals sein

Nostalgie leitet sich von den griechischen Wörtern νόστος, „Rückkehr zur Heimat“ und ἄλγος, „Schmerz“ her und wurde als Kunstwort von J. Hofer als wissenschaftlicher Term 1688 für „Heimweh“ geprägt. Die Nostalgie (oder der Begriff der) hat im Laufe der Jahrhunderte auch eine Wandlung durchgemacht: Wenn man so will ist er durch verschiedene Sprachen gereist und heute nicht mehr synonym mit dem Heimweh zu setzen, hat sich aber noch nicht ganz von ihr gelöst. Er ist ein Reisender und vielleicht sogar ein Heimkehrer.[2]

Im Nachfolgenden möchte ich über die Nostalgie als Schmerz der Heimkehr sprechen und damit über das Negativ einer Reise. Nach meinem Verständnis sind sie zwei Seiten einer Medaille.
Eine Reise unterscheidet sich grundsätzlich von einem Urlaub und sollte unter keinen Umständen verwechselt werden. Ein Urlaub verödet die Seele[3], falls dies nicht schon geschehen ist, indem er das immer Gleiche, die alltägliche Enge und das Gewohnte bis in ein anderes Land verlängert. Ein All-Inclusive Club Hotel ist der Tempel der Langeweile. Nach allen Künsten wird versucht, die Erwartungen der Urlauber_innen zu erfüllen. Die Erwartungen werden aus dem Alltag mitgenommen und dank des vorauseilenden Gehorsams der Touristik besteht keine Möglichkeit, diesem zu entkommen. Man bleibt befangen und gefangen.
Dies wird jedoch schnell schal wie abgestandenes dort so gerne serviertes Bier, wenn man bedenkt, dass dies alles nur auf zuvor zu Hause getroffene Erwartungen zurückgeht. Dem gegenüber wird man bei einer Reise schnell feststellen, dass sich die vorab zurechtgelegten Schablonen nicht mit der Wirklichkeit decken, im Guten oder Schlechten.

Eine Reise wirft den Reisenden (geschlechtsneutral) am Ende auch immer wieder auf das selbst zurück, beladen mit Erfahrungen, Erlebnissen geht es jedoch am Ziel ein wenig fehl. Er trifft sich selbst jedoch nie mit dem, was es vor der Abreise war.
Wahres Reisen bedarf keiner räumlichen Veränderung. Ein schöner und tiefer Gedanke kann dies ebenfalls bewerkstelligen. Ein Buch kann ein geeigneteres Vehikel für eine Reise sein wie ein Kreuzfahrtschiff.[4] Auch ein langer Tagtraum, der nicht nur zerstreut oder ein gutes Gespräch. Der_die individuelle Lerser_in dieses Textes möge sich selbst noch viele Beispiele hierzu im Kopfe ausmalen, am besten mit reichlich ausgestalteten Landschaften. Die Nostalgie schlägt dann zu, wenn man wieder zurück in der Heimat ist und erkennt, dass sie nicht mehr die ist, die man verlassen hat, weil man selbst nicht mehr der ist, der man vor der Abreise war. Ein bittersüßes Gefühl.

Durch den neuen Blick auf sich selbst sieht man das ehemals Vertraute anders, kann über die Witze der eigenen Jugend nicht mehr so lachen, muss erkennen wie alles noch immer das gleiche ist wie ehedem nur der_die Heimkehrende nicht.
Es gibt aber auch die verkitschende einfache Nostalgie, die Nostalgie der Urlauber_innen. Diese hat nichts mit einem Ich zu tun, das sich auf sich selbst zurückgeworfen sieht und erkennen muss, dass Erinnerung und Gegenwart nicht eins sind, sondern entgegen allen Tatsachen die Vergangenheit einem Wunsch entsprechend verklärt. Wer diesen Schmerz noch nie erlebte, ist noch nie verreist. In diesem Schmerz kann das Heim einem auch unheimlich werden.[5] Dennoch: Aber Hier Leben, Nein Danke.[6]

[1] Digital ist besser, Tocotronic
[2] Von einem deutschsprachigen Schweizer geprägt, über das Französische ins Englische und zurück ins Deutsche.
[3] Wer es weniger spirituell lieber mag, nenne es das Bewusstsein.
[4] Mir ist bekannt, dass solche Schiffe über großzügig ausgestattete Bibliotheken verfügen können…
[5] Vgl. Freud: Das Unheimliche (Dies führt mich aber nun wirklich zu weit weg von der Heimat des Textes, aber reisen ist schön.)
[6] Pure Vernunft Darf Niemals Siegen, Tocotronic

Foto: pedrojperez

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