Weihnachten auf der Spes Solis
„Gānbēi!“, flötete Lin fröhlich, als sie ihr Glas mit dem widerlichen Getränk über dem Tisch in die Höhe hob. Greg und Seung stiessen bereitwillig an, zögerten dann aber, als es darum ging, das Zeug wirklich zu trinken, das nicht nur eine grausige Farbe hatte, sondern auch nicht viel besser roch.
„Wie wär’s stattdessen mit Tee?“, versuchte Seung vorsichtig vorzuschlagen und stellte sein Glas wieder auf den Tisch. Er hätte damit gerechnet, dass Lin ihn rügen würde, immerhin war sie es gewesen, die mühsam aus den heruntergefallenen Früchten etwas gebraut hatte, das bloss entfernt an Wodka erinnerte. Doch zu Seungs Überraschung war es Greg, der beinahe befehlend blaffte: „Keine Rückzieher, trink!“
Die braun-gelben Brühe roch wie Erbrochenes und schmeckte auch so. Zum Glück begann er nicht zu würgen, sondern erinnerte sich lediglich an die erste Woche auf der Spes Solis, als Greg und sein Kumpel Amor sein Kimchi nicht essen wollten, mit dem Argument, es würde aussehen wie vorverdautes und ausgespucktes Katzenfutter. Seung vermisste das hausgemachte Kimchi seiner Frau, alles, was sie an Bord hatten war abgepacktes Brot, ekliges Proteinpulver und das schrumpelige Gemüse, das erst geerntet wurde, wenn es nicht mehr genügend Sauerstoff produzierte. Wenigstens hatten sie dafür genügend Atemluft.
„So ist’s gut, Park“, lachte Greg und fügte dann in einem Tonfall, der zwischen Euphorie und Verbissenheit schwankte, hinzu: „Und jetzt die nächste Runde!“
Nun begann offenbar auch Lin sich zu fragen, was genau mit dem amerikanischen Ingenieur los war, denn sie runzelte die Stirn, als Greg wegschaute. Vermutlich hatte er den Weihnachts-Blues, jedenfalls wäre Seung keine bessere Erklärung für die komischen Stimmungsschwankungen seines Kameraden eingefallen. Die Festtage waren auf dem Schiff für alle eine harte Gemütsprobe, besonders für die, welche eine Familie zuhause hatten. Trotzdem war Gregs Benehmen etwas seltsam, er hatte vorhin sogar Amy verjagt und mit der verstand er sich in der Regel bestens.
„Ich glaube es reicht fürs Erste“, stellte Seung fest, während er Lin abwinkte, die ihm gerade nachschenken wollte.
Greg wandte sich ihm zu. „Ach, kommt schon Leute, feiert doch noch etwas mit mir.“
Seung ächzte leise und blickte die Botanikerin fragend an. Vielleicht hatte sie ja einen spontanen Geistesblitz, der ihm die Peinlichkeit, mit Greg ein Wettrinken veranstalten zu müssen, ersparen könnte. Lin zuckte mit den Schultern und füllte sein Glas randvoll mit dem improvisierten Wodka, was Greg dazu brachte, freudig zu brüllen: „Yeah!“
Danach wurde es wieder still, so wie es zu Beginn ihres kleinen Fests gewesen war. Lin spielte mit dem zierlichen Goldring, der ihr wegen der Flüssigkeitsverlagerung nicht mehr richtig passte. In den Gärten, die sie kurzerhand zu ihren Aufenthaltsräumen erklärt hatten, gab es zwar künstliche Schwerkraft, im Rest des Schiffes jedoch nicht, weswegen sie von den typischen Komplikationen der Schwerelosigkeit nicht verschont blieben. Der Physiker kämpfte noch immer mit dem abstossenden Geschmack in seinem Mund, doch leider gab es an Bord keine stark gewürzten Weihnachtsplätzchen, mit denen er ihn weggebracht hätte. Gregs fröhliche Trunkenheit wich einem apathischen Ausdruck und Seung fragte sich, was Weihnachten für den Amerikaner überhaupt bedeutete.
Die Propeller der Grünanlage surrten gleichmässig, doch von den restlichen hundertsiebenundachtzig Crewmitgliedern war nichts zu hören. Sektor J, in dem Lin, Greg und Seung untergebracht waren, war der einzige, der wegen dem Lärm der Maschinen komplett schalldicht isoliert worden war. Er lag im hintersten Bereich der nadelartigen Spes Solis, direkt vor dem Triebwerk-Wartungsraum, in dem tagein und tagaus die Ionisierung der Stützmasse kontrolliert wurde.
Seung schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an Tage, denn logischerweise gab es so etwas auf der Spes Solis nicht. Es gab bloss die langen, kaltweiss beleuchteten Gänge, Ruheräume, Labore und Gärten, die zur Kultivierung von Nahrungsmitteln und zur Photosynthese benutzt wurden und durch deren meterdicke Panzerglaskuppel die Sonne schien. Sie wurden in regelmässigen Abständen verdunkelt, um einen Tagesrhythmus für die Pflanzen und die Crew zu simulieren, doch zumindest für den Koreaner funktionierte das nicht überzeugend genug.
Sie waren vor exakt dreihundertvierunddreissig Tagen aufgebrochen und hatten damit gut drei Viertel ihrer Reise zur Sonne hinter sich gebracht. Doch der riskanteste Teil ihrer Aufgabe stand der bunt zusammengewürfelten Crew erst noch bevor. Lin war die einzige ihrer kleinen Tischgemeinschaft, die bereits vor der Mission der Spes Solis im All gewesen war, allerdings nur für drei Wochen. Die Dreiundvierzigjährige hatte zum Entwicklerteam der Sauerstoff-Akkus gehört und war wahrscheinlich die einzige Passagierin, die sich ihr Einfachticket zur Sonne vehement erstritten hatte. Lin war hier, weil sie ihre Erfindung liebte und bei ihr sein wollte, bis zum bitteren Ende. Nur dafür hatte sie ihre Familie hinter sich gelassen und sich bereiterklärt, ein Teil dieser aussichtslosen Mission zu werden, nur dafür und für nichts anderes.
„Frohe Weihnachten, Jackie!“, prostete Greg mit geschlossenen Augen. Wahrscheinlich tat seine Frau zuhause dasselbe. Die Wehmut auf dem Gesicht seines Kameraden zu sehen zermürbte Seung. Es war nicht sein Feiertag und er hatte sich zuvor nie viele Gedanken darüber gemacht, was Weihnachten für Leute bedeutete, die mit diesem Fest aufgewachsen waren. Und obwohl er der Überzeugung war, dass man die Traditionen der anderen respektieren sollte, nahm er es dem Amerikaner doch ein wenig übel, dass er ihn mit seinem Heimweh an den eigenen Trennungsschmerz erinnerte.
Anders als Lin hätte Seung jederzeit kehrtgemacht und nichts lieber getan, als dieses vermaledeite Schiff verlassen. Für ihn gab es keinen anderen Grund hier zu sein, als die Hoffnung, dass er seiner Mutter damit ein sorgenfreies Leben schenken konnte und nach allem was sie für ihn geopfert hatte, fühlte er sich dazu verpflichtet. Es war sicher nicht einfach gewesen, als Witwe und Mutter von drei Kindern jedes einzelne auf eine Universität zu schicken und sie zu alledem auch noch nach dem Abschluss zu unterstützen, weil nach dem Krieg Farmer und nicht Physiker benötigt worden waren. Deswegen hatte er die Spes Solis erst auch als Geschenk des Himmels betrachtet, sie war gerade noch rechtzeitig gekommen. Damals aber hatte er aber auch noch die Hoffnung gehabt, dass die Mission tatsächlich fruchten würde, dass ihre Aussichten mehr als nur trübe Fantasien waren. Die wachsenden Schuldgefühle, weil er seine Mutter für ein, zum Scheitern verurteiltes, Abenteuer verlassen hatte, ignorierte er, mal mehr, mal weniger erfolgreich.
„Auf euch, ihr Sonnen-Helden!“ Gregs typisch verschmitzter Ausdruck war zurückgekehrt, als er mit einer dramatischen Geste auf die beiden anderen deutete und sich dann den letzten Schluck in die Kehle schüttete.
„Auf dich, du Irrer“, stimmte Lin in den Trinkspruch mit ein. Sie trank aus, rümpfte die Nase und meinte dann: „Schrecklich, was man aus verfaulten Kartoffeln machen kann.“
„Du hast gut reden, immerhin hat der Vollidiot dich nicht dazu gezwungen, drei volle Gläser zu kippen.“
„Hey, ich wollte dich aufheitern! Manchmal bis du ein undankbarer Bastard, Park.“ Greg meinte das selbstverständlich nicht so, er zeigte kaum je Ernsthaftigkeit, nicht einmal, wenn die Kacke am Dampfen war; und das schloss den Vorfall mit der kaputten Sanitärschleuse mit ein.
Bis heute wusste eigentlich niemand von ihnen, wie der untersetzte Ingenieur auf der Spes Solis gelandet war, er gehörte weder zu den besten seines Fachs, noch war er physisch für die Raumfahrt geeignet gewesen. Es gab sogar Gerüchte, dass der Start nur wegen ihm hatte verschoben werden müssen, weil er den Abschlusstest nicht bestanden hatte. Nichtsdestotrotz war jeder, der mit ihm zusammenarbeitete, froh um den ulkigen Typen, der in keiner Situation seinen Humor zu verlieren schien. Naja, in fast keiner, Weihnachten war wohl die Ausnahme.
„Wie lange hat es eigentlich bei dir gedauert, bis du den Ausblick nicht mehr genossen hast?“, wollte Greg auf einmal wissen, deutete auf die Glaskuppel und sprach damit ein Tabu aus. Sicher, auf dem Schiff wurde oft über die Unmöglichkeit ihrer Mission gesprochen, die Tatsache, dass sie als Pioniere im Projekt Dyson-Sphäre kaum mehr waren als Versuchskaninchen, die zur allgemeinen Beruhigung der Weltbevölkerung zur Sonne geschickt worden waren. Selbst darüber, dass die Mission mit hoher Wahrscheinlichkeit nie gelingen würde und eine Rückkehr auf die Erde nicht geplant war, wurde offen gesprochen. Aber keiner, wirklich keiner, lästerte über die Aussicht unter der Kuppel.
„Spinnst du?“, begann Seung, sichtlich aufgebracht, „Das ist ja wohl das einzig Gute hier.“ Er meinte es so oder wollte es zumindest glauben. Lin hingegen hatte keine Lust darauf, ihre wahren Gedanken zurückzuhalten und erwiderte kühl: „Nach achtundneunzig Tagen, so ziemlich genau in dem Moment, als wir die Venus passiert hatten.“ Mit einem tiefen Seufzer erhob sie sich, stemmte ihre Hände in die Hüften und drehte sich von den beiden Männern weg, so dass sie durch das beschichtete Glas direkt auf den orange-glühenden Feuerball blicken konnte. Für einige Zeit herrschte Schweigen unter den dreien, während sie ihren eigenen Gedanken nachgingen.
Schliesslich unterbrach Seung die Stille, als sie ihm unangenehm wurde: „Aber wo liegt eigentlich dein Problem, Greg? Es ist Weihnachten und du schwebst näher an einem Stern als jemals ein Mensch zuvor, siehst die Sonne, wie sie noch niemand gesehen hat. Sollte dich das nicht glücklich stimmen?“
„Mag sein“, murmelte Greg zur Antwort. Seung hätte gerne angefügt, dass es sich dabei um einen sterbenden Stern handelte, hielt aber rücksichtsvoll die Klappe und goss sich den letzten Rest der braun-gelben Flüssigkeit ein.
Über die Autorinnen:
Wir sind zwei junge Autorinnen aus der Schweiz, die seit August 2012 am Literaturprojekt „Clue Writing“ arbeiten. Zwei Mal wöchentlich erscheint auf unserem Projektblog cluewriting.wordpress.com eine Kurzgeschichte, in welcher vorgegebene Clues (oder: Stichworte), sowie ein Setting vertextet werden. Das heisst nicht nur, dass unsere werten Clue Reader direkt ins Literaturgeschehen eingreifen können, in dem sie Stichworte beisteuern, sondern auch, dass sich im Laufe der Zeit ein beachtliches Textsammelsurium aus den verschiedensten Genres angesammelt hat. Auf Clue Writing ist nun wirklich alles vorhanden, was das Leseherz sich wünschen könnte: von düsteren Krimis und Abenteuergeschichten, über Komödien, gespickt mit Anspielungen auf Popkultur und Wissenschaft, bis hin zu dramatisch-schwülstigen Charakterstudien oder Horroraction – You name it, we’ve got it.
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