#11. Türchen

von | 11.12.2015 | #litkalender, Kreativlabor

O du fröhliche

Es stimmt schon: Jede Medaille hat zwei Seiten und es ist nicht alles Gold, was glänzt. Vor meinen Augen glänzt und leuchtet es wundervoll, doch habe ich die Kehrseite der Medaille erwischt.
Verschleiert quillt warmes Licht durch die dunklen Gassen der Altstadt. Chorgesang dringt von fern an meine frierenden Ohren. Ich ziehe die Ohrenklappen des ausrangierten Trapper-Hutes nach unten und puste mir in die hohlen Hände. Dick eingepackte Menschen laufen fröhlich an mir vorüber. Es duftet nach gebrannten Mandeln und Maronen.
Ich greife nach der angelaufenen Cola-Flasche, schraube sie mit gefrorenen Fingerkuppen auf und nehme einen kräftigen Schluck der undefinierbaren Flüssigkeit zu mir. Für einen kurzen Augenblick schmecke ich Anis, dann Koriander und schließlich brennt es nur noch. Wohlige Wärme breitet sich in der Magengegend aus.
Als ich wieder aufblicke, fällt eine Münze klimpernd auf das nasskalte Kopfsteinpflaster. Ich angle danach. Ein Mann mit brauner Ledertasche und harten Absätzen an seinen Schuhen läuft über meine Finger. Ich schreie auf, er meckert herum, während er sich kurz zu mir umdreht. Locker den Schal um den Hals und das Mobiltelefon am Ohr hastet er weiter. Die anderen Menschen ebenfalls. Ich reibe mir meine schmerzenden Finger.

Es wird kälter. Der einsetzende Nieselregen gefriert sogleich am Boden. Die enge Gasse wird zur Rutschbahn. Eltern brüllen ihre Kinder an, dass sie gefälligst aufpassen sollen, nur um dann selbst hinzufallen.
Schwerfällig und steifgefroren erhebe ich mich. Mein weniges Hab und Gut ist schnell geschultert und meine Schritte führen mich hinaus aus der Enge. Auf einen offenen Platz, der mich mit seiner Lichterflut und einem unvorstellbaren Stimmengewirr empfängt. Ich bleibe am Rand, bleibe im Schatten verborgen. Eine nasse Holzbank wird mein Lager. Durch einen glasigen Schleier dreht sich der bunte Schimmer im Takt der festlichen Trompetenklänge.
Ein weiterer Schluck aus der Cola-Flasche. Nun ist sie leer. Mit dem Ärmel meiner graugrünen Tweed-Jacke wische ich mir zunächst die feuchten Wangen, dann den feuchten Mund ab. Die wildgewachsenen Barthaare erzeugen ein kratzendes Geräusch auf dem Stoff.
Kinder tragen Zuckerwatte an mir vorbei. Erwachsene prosten sich mit Glühweinstiefeln zu, wobei sie die Hälfte verkleckern. Ein überdimensionaler lilafarbener Stoffesel kommt auf mich zu. Kurz vorher biegt er ab. Die kurzen Ärmchen, die ihn tragen, reichen kaum um dessen Hals herum.
Sachte aber stetig sammeln sich kleine weiße Punkte auf meinen Ärmeln. Das Treiben geht weiter, geht immer weiter. Es wird kälter, wird weißer und schließlich endet alles. Die Lichter gehen aus – Stück für Stück. Die Musik verstummt. Der Schneefall setzt aus. Keine Menschen mehr. Ein paar Raben, Tauben und eine Katze. Alles ist weiß, alles ist still. Nur die Raben zanken um die heruntergefallenen Leckerbissen.

Noch immer sitze ich auf der Bank. Es ist so unendlich kalt. Am aufklarenden Nachthimmel funkeln eisig die Sterne. Eine Hand legt sich von hinten auf meine Schulter. Ich drehe mich um und blicke in ein junges weibliches Gesicht, welches oben von einer blauen Schildmütze begrenzt wird.
„Sie können hier nicht über Nacht bleiben“, sagt die Polizistin.
Ich packe meine Sachen und ziehe weiter. Quer über den verstummten Weihnachtsmarkt. Wohin? Ich weiß es noch nicht.
Nun hat sie also begonnen, die frohe Zeit.

Text: Marco
Bild: Celina

Bücherstadt Magazin

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Das Bücherstadt Magazin wird herausgegeben vom gemeinnützigen Verein Bücherstadt. Unter dem Motto "Literatur für alle!" setzt sich die Redaktion mit der Vielfalt der Literatur im Sinne des erweiterten Literaturbegriffs in verschiedenen medialen Aufbereitungen auseinander.

4 Kommentare

  1. Avatar

    „Es stimmt schon: Jede Medaille hat zwei Seiten und es ist nicht alles Gold, was glänzt. Vor meinen Augen glänzt und leuchtet es wundervoll, doch habe ich die Kehrseite der Medaille erwischt.“ – feiner aphorismus, musste schmunzeln 😉

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    • Avatar

      Ging mir beim Lesen auch so!

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  2. Avatar

    Super plastisch!!! Habe beim lesen wirklich gefroren!

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  3. Avatar

    Und wenn es uns schon beim Lesen (oder in meinem Fall Schreiben) so ergeht …

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